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MarieAntoinette DamenThierry Malandains choreografisches Porträt der österreichischen Erzherzogin und späteren französischen Königin Marie Antoinette, das an der Volksoper Wien gezeigt wird, versteht sich weniger als biografische Erzählung denn als abstrahierende, bewegungszentrierte Reflexion. Der Choreograf verzichtet auf psychologische Ausdeutung und narrative Stringenz zugunsten einer offenen, assoziativen Struktur.

Im Unterschied zur Vorgängerversion von Patrick de Bana, die zwischen 2010 und 2016 an der Volksoper zu sehen war und die innere Befindlichkeit der Titelheldin in den Mittelpunkt rückte, entwirft Malandain eine Collage aus Schlüsselmomenten im Leben der zunächst gefeierten französischen Königin und schließlich verhassten „Autrichienne“. Diese Szenen folgen keiner dramaturgischen Entwicklung, sondern stehen gleichberechtigt nebeneinander – als Bilder einer Figur, die weniger handelt, als gehandhabt wird.MarieAntoinette3

Die Choreografie bedient sich einer neoklassischen Formensprache mit Zitaten aus barocken Tanzformen. Repetitive Bewegungsmuster, strenge Symmetrien und eine nahezu architektonische Körperorganisation prägen das Bühnengeschehen. Expressive Gestik bleibt weitgehend ausgespart; einzig der Figur Maria Theresias (Rebecca Horner) sind deutlich markierte Gesten zugeordnet. Diese bewusste Asymmetrie unterstreicht die Machtverhältnisse innerhalb des dargestellten Systems.

MarieAntoinette4Die daraus resultierende emotionale Distanz ist kein Mangel, sondern zentrales ästhetisches Prinzip. Marie Antoinette erscheint nicht als identifikationsfähiges Individuum, sondern als Projektionsfläche zwischen höfischem Ritual, persönlicher Isolation und historischer Determination. Malandain interessiert weniger das private Schicksal als die Mechanismen, die eine Person zur Repräsentationsfigur machen – und sie zugleich entmenschlichen.

Das Wiener Staatsballett setzt diese konzeptionelle Strenge technisch präzise um. Die Choreografie verlangt klare Linienführung, exakte Ensemblearbeit und kontrollierte Zurücknahme individueller Virtuosität. In der Titelrolle gestaltet Elena Bottaro ein breites Ausdrucksspektrum: von steif-eleganter Repräsentation über flüchtige Momente spielerischer Leichtigkeit bis hin zu apathischer Resignation und finaler Angst. Ihre Darstellung arbeitet mit Reduktion und Andeutung statt emotionaler Zuspitzung. An ihrer Seite überzeugen Andrés Garcia Torres als Ludwig XVI., Aleksandar Orlic als Axel von Fersen und Mila Schmidt als Madame du Barry.MarieAntoinette Mila

Die Stärke der Produktion liegt in ihrer ästhetischen Konsequenz und analytischen Durchdringung des Stoffes. Malandain dekonstruiert den Mythos der „lasterhaften Königin“ und zeigt eine Figur, die von Herkunft, Etikette und politischen Strukturen geformt und schließlich zermalmt wird. Ihr frivoler Lebensstil und überbordender Hedonismus sind hier Ausdruck eines Systems. Der bewusste Verzicht auf dramatische Zuspitzung ist Teil dieser Lesart – und zugleich ihr Risiko.

Die opulenten, farbenfrohen Kostüme und Requisiten vor einem zurückhaltenden Bühnenbild (Ausstattung: Jorge Gallardo) zeichnen vor allem den extravaganten Lebensstil am Hof nach. Die Hinrichtungsszene gehört zu den eindringlichsten Momenten des Abends, gerade weil sie auf visuelle Effekte verzichtet: Während das Königspaar reglos auf der dunklen Bühne steht, fällt aus dem Off das Beil der Guillotine. Der Akt selbst bleibt unsichtbar – seine Konsequenz umso präsenter.

MarieAntoinette5Gleichzeitig markiert diese Zurückhaltung die Grenze des Konzepts. Die radikale Stilisierung und emotionale Kühle verhindern, dass sowohl der historische Abgrund als auch das menschliche Leid der Titelheldin wirklich fassbar werden. Die politische und soziale Dimension der Französischen Revolution bleibt nahezu vollständig ausgeblendet; sie erscheint lediglich als anonyme Bedrohung, verkörpert durch männliche Ensemblegruppen in dunkler Kleidung und akustisches Volksgrollen aus dem Off. Der historische Kontext wird so auf eine abstrakte Gewalt reduziert.

Als historischer Anker dient vor allem die Musikauswahl mit Werken von Joseph Haydn und Christoph Willibald Gluck, die vom Orchester der Volksoper Wien unter der Leitung von Christoph Altstaedt stilistisch differenziert und klanglich transparent umgesetzt werden. Die Musik fungiert weniger als emotionaler Motor denn als strukturierendes Element innerhalb der formalen Anlage.MarieAntoinette2

Fazit: Thierry Malandains „Marie Antoinette“ ist eine formal stringente, visuell überzeugende und hervorragend getanzte Arbeit, die sich einer psychologischen oder narrativen Vereinnahmung konsequent entzieht. Das Ballett versteht sich als analytische Studie über Repräsentation, Isolation und den Verlust von Selbstbestimmung innerhalb übermächtiger Systeme. Wer emotionale Nähe oder einen erzählerischen Sog erwartet, dürfte unbefriedigt bleiben. Wer jedoch eine ästhetisch geschlossene und interpretatorisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit einem historischen Mythos sucht, findet hier eine ebenso konsequente wie herausfordernde Deutung.

Wiener Staatsballett: “Marie Antoinette” von Thierry Malandin am 22. Dezember (Premiere am 20. Dezember) an der Volksoper Wien. Weitere Vorstellungen am 26., 28. Dezember 2025, 3. Jänner, 3., 6., 11., 13. Februar, 29., 31. März, 5. April 2026.

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