Möbius – Die Poesie des kollektiven Körpers. Die Bühne ist weiß und leer. Ein schwarzer Punkt bewegt sich, wird zu einer Linie, dann zu einer Welle. Plötzlich sind es neunzehn Körper, die sich hier scheinbar ohne individuelles Gesicht versammelt haben. Sie heben die Arme als breiteten sie die Flügel aus – und los geht’s. So beginnt „Möbius“, das neueste Werk der französischen Zirkuskompanie XY, das weniger eine Show ist als vielmehr eine philosophische Untersuchung in Bewegung.
Bei dieser Verkörperung eines Vogelschwarms verlässt die Compagnie XY unter der künstlerischen Leitung des Choreografen Rachid Ouramdane mutig das Terrain der bloßen Artistik und betritt den Raum der reinen, bewegten Metapher.
Der Titel ist ein perfektes Programm. Das Möbiusband, jenes mathematische Kuriosum mit nur einer Kante und einer Fläche, steht für das Unendliche, das Ineinanderfließen, die Aufhebung von Gegensätzen. Genau diese Prinzipien treiben die Performance voran. Es gibt keinen klaren Anfang, kein definitives Ende, keine Hierarchien zwischen oben und unten, Träger und Flieger, Stärke und Schwäche. Stattdessen erleben wir einen lebendigen Organismus, einen Schwarm, der atmet, pulsiert, sich verdichtet und wieder auflöst.
Was hier an Akrobatik gezeigt wird, ist atemberaubend. Menschen türmen sich zu wankenden Türmen, katapultieren sich durch die Luft, bilden wandelnde Pyramiden. Doch die eigentliche Faszination liegt nicht in der schieren Höhe oder dem Risiko. Sie liegt in der Art und Weise, wie es geschieht. Jede Bewegung wirkt nicht wie ein ausgeführter Trick, sondern wie ein notwendiger Impuls innerhalb eines größeren Ganzen. Die berühmten „murmurations“, die kunstvollen Schwarmformationen der Vögel, sind der eindeutige visuelle Bezugspunkt. Auf ihren langen Flügen schlafen sei im Fliegen, während einige von ihnen wach bleiben und für ihre Sicherheit sorgen. Und so führt eine Akrobatin das auf dem Boden liegende Kollektiv sicher über die Bühne, bevor es erneut erwacht. Die Akrobat*innen sind wie Stare am Abendhimmel, die eine kollektive Intelligenz formen, die größer ist als die Summe ihrer Teile.
Damit bricht XY radikal mit der Tradition des Zirkus als Ort der individuellen Heldenverehrung. Hier gibt es keine Stars, keine Soli, die länger als ein paar Sekunden dauern. Die Stärke des Einzelnen existiert ausschließlich im Dienst des Kollektivs, das eine lebendige Skulptur bildet. Dies wird besonders in den Momenten des Scheiterns deutlich – die hier jedoch nicht als Missgeschick, sondern als choreografisches Element inszeniert werden. Ein menschlicher Turm stürzt ein, nicht aus Versehen, sondern in einer Art wohldurchdachtem, langsamen Kollaps.Lautlos perlen die Akrobat*innen voneinander ab, faltet sich der Turm zusammen. Die Körper werden nicht fallen gelassen, sondern sicher, fast zärtlich, von der Gruppe aufgefangen und in den nächsten Bewegungsfluss überführt. Diese ständige Transformation von Kraft in Fragilität und wieder zurück ist das Herzstück der Vorstellung. Sie vermittelt eine tiefe Ethik der Fürsorge und des absoluten Vertrauens.
Die Ästhetik unterstützt diese Reduktion auf das Wesentliche. Auf der leeren, hellen Spielfläche, oft nur von harten Schlaglichtern oder warmem Streiflicht erhellt, wirken die schwarzen Figuren wie lebende Pinselstriche. Die elektronische Musik ist kein rhythmischer Antrieb, sondern ein atmosphärischer Raum aus Flächen und Klängen, der die Stimmungen von Dringlichkeit, Schweben und Melancholie untermalt. Alles ist auf Klarheit und Konzentration ausgelegt.
Die Stärke von „Möbius“ liegt in dieser klaren, fast sachlichen Herangehensweise. Die Kompanie XY verzichtet auf die üblichen Effekte der Zirkuswelt und vertraut stattdessen auf die Wirkung von Rhythmus, Masse und Raum. Sie haben den Zirkus von seinem Unterhaltungszwang befreit und ihn zu einem Ort der kontemplativen, hochrelevanten Kunst erhoben. Das Ergebnis ist eine Performance, die fesselt, ohne zu überwältigen.
Genau hier liegt auch die große Leistung des Choreografen Rachid Ouramdane. Er bringt nicht „Tanz“ in den Zirkus, sondern eine choreografische Denkweise. Ihn interessiert weniger die spektakuläre Figur an sich, als deren Platz im Raum, ihre Dauer, ihr Übergang in die nächste Formation. Er zwingt die virtuosen Körper der Akrobaten zu einer ungewohnten Disziplin: der der Pause, der Langsamkeit, der Absichtslosigkeit innerhalb einer höheren Absicht. Das Ergebnis ist eine unglaubliche poetische Dichte.
Denn letztlich ist „Möbius“ eine große Erzählung über Menschlichkeit. Es ist eine optimistische, fast utopische Vision davon, was möglich ist, wenn Individualismus zugunsten eines gemeinsamen Ziels zurücktritt. In einer Zeit der Fragmentierung und des Eigeninteresses wirkt dieser Anblick eines perfekt aufeinander abgestimmten, solidarischen Kollektivs nicht nur ästhetisch bezwingend, sondern auch zutiefst politisch und tröstlich.
Ein großartiger, unvergesslicher Abend.
Rachid Ouramdane / Compagnie XY: “Möbius” am 20. Dezember im Festspielhaus St. Pölten
