Was für ein Husarenstück ist John Neumeier und Jürgen Rose mit ihrer „Schwanensee“-Umdeutung geglückt. Bald 50 Jahre ist das her. August Everding war damals Intendant der Hamburger Staatsoper. Für das Ballett stellte er sich einen Klassiker von Peter Tschaikowsky vor. Da kam sein Ballettdirektor und Chefchoreograf gemeinsam mit dem kongenialen Bühnenausstatter auf eine famose Idee: Sie brachten den Mythos des Märchenkönigs Ludwig II. aus dem Haus Wittelsbach mit der Geschichte des unglücklichen Prinzen Siegfried in Verbindung. Und das auf dramaturgisch überzeugend schlüssige Art und Weise.
Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ sind keine simple Nacherzählung eines romantischen Stoffs. Mit der Figur des Königs – so die Rollenbezeichnung – steht ein Mensch im Mittelpunkt, dessen innere Zerrissenheit und Flucht vor der Wirklichkeit in Traumwelten ein reales Vorbild in Ludwig II. von Bayern hat. Dabei wird im Plot wesentlich freier mit biografischen Fakten umgegangen, als das in „Mayerling“ von Kenneth MacMillan der Fall ist.
Erzählt wird in drei Rückblenden. Zu Beginn gibt es ein buntes Volksfesttreiben mit Kinderbelustigung, Bauerntänzen, Fingerhakeln und Wettkämpfen über improvisierte Holzgeräte – so voller Details vorgeblich bayerischen Brauchtums und hübscher Trachten wie in einem Wimmelbild. Alle auftretenden Personen sind Neumeiers Fantasie entsprungen – bis auf die Hauptfigur. Dieser tänzerisch wie darstellerisch glaubhaft Kontur zu verleihen, ist eine Herausforderung, die Münchens Erster Solist Jakob Feyferlik in der Wiederaufnahme-Premiere ganz fabelhaft gemeistert hat.
Er sieht im Kostüm nicht nur beinahe aus wie der junge Ludwig, sondern vermittelt dem Publikum auch sehr eindrücklich dessen schicksalhaftes Psychogramm voller psychologischer Einzelheiten. Die innere Bewegtheit spielt und entwickelt Feyferlik von Anfang bis zum Schluss stringent weiter. Seine Interpretation trägt den kompletten zweieinhalbstündigen Abend und bleibt auch in den Pas de Deux mit der Prinzessin an seiner Seite (ausdrucksstark in ihrer verzweifelten Lage: Ksenia Shevtsova als Natalia) stets emotional ganz in der Rolle – perfekt ausgeklügelt-impulsiv zwischen absolut majestätisch, gedanklich introvertiert, aufbrausend, unergründlich abweisend für seine Entourage und sich letztlich endgültig abwendend von der Realität.
Dass das Ballettdrama tatsächlich erst vor 14 Jahren ins Repertoire des Bayerischen Staatsballetts übernommen worden ist, mag man kaum glauben. Nun ist das bayerischste aller Ballette nach neunjähriger Spielpause zurück auf der Bühne des Nationaltheaters. Für wahnsinnig erklärt, findet sich der König alleine in einem schmucklosen Backsteinverlies wieder – nicht in Schloss Berg, sondern im Rohbau des nicht fertiggestellten Flügels seines Prunkbaus auf Herrenchiemsee: weggesperrt von eben jenen hohen Staatsbeamten, die einst beim Richtfest – dem ersten Erinnerungsflashback – überaus kritisch das Modell des imposant auf Felsen thronenden Schlosses Neuschwanstein begutachtet hatten. Hier, ausgestattet bloß mit einigen zu Beginn unter Tüchern verhüllten Objekten, haben Neumeier und Rose die Wirklichkeit angesiedelt.
Hier nimmt der arretierte König Abschied von seinem Freund und engsten Vertrauten. Die Partie des empathischen Grafen Alexander, der – anders als Ludwig – in Liebesdingen so gar keine Probleme und in Prinzessin Claire (hinreißend: Margarita Fernandes) die Braut seiner Träume längst für sich gewonnen hat, wird vorzüglich von António Casalinho interpretiert. Beider schmissiger Tanz in Verkleidung als russisches Paar beim großen „Ball der Nationen“ im finalen Akt mit der dritten Rückerinnerung fetzt wirklich.
Im royalen Verlies begegnet dem König aber auch zum ersten Mal die mysteriöse, erstmals von Severin Brunhuber getanzte Gestalt des „Mannes im Schatten“ – seines Alter Egos, das ihm im Verlauf des Stücks immer wieder in unterschiedlicher Gestalt entgegentritt: Als der König sich im zweiten Akt in die Separatvorstellung einer „Schwanensee“-Aufführung träumt, die Neumeier und Rose ästhetisch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt haben, schlüpft Brunhuber in die Rolle des bösen Zauberers Rotbart. Ganz im Stil einer historischen Ballerina, den sie so wunderbar beherrscht, tritt Madison Young als in einen Schwan verzauberte Odette auf. Realität und Illusion verschwimmen. Ksenia Shevtsova beobachtet als erdachte Prinzessin Natalie, wie Jakob Feyferliks Ludwig sich mit dem „Schwanensee“-Prinzen Siegfried nicht bloß identifiziert, sondern teilweise sogar dessen Part übernimmt.
Um der Gefühlsverschrobenheit des Mannes, der ihr etwas bedeutet, Herr zu werden, überrascht sie diesen später beim Maskenball mit ihrem plötzlichen Auftritt in einem schwanenähnlichen Kostüm. Freudiges Erstaunen kippt um in Zuneigung, die sich in klassischen Sprungvariationen (Feyferlik) und virtuos-wilden Fouettes (Shevtsova) Bahn bricht. Doch die Leichtigkeit des zweisamen Glückmoments ist nur von kurzer Dauer. Der König tritt einmal mehr gedanklich abgelenkt zur Seite. Vor ihn schiebt sich der lustige Schmetterlingsfänger und Pulcinella im schwarzen Gewand. Es ist Brunhuber, mit dem Feyferlik ein letztes, nach kämpferischem Dagegenhalten à la Siegfried/Rotbart quasi versöhnliches Duett mit seiner eigenen gespaltenen Persönlichkeit tanzt – anfangs umringt von Schwänen, dann auf leerer Bühne.
Eine Woche lang hatte John Neumeier die Proben und die Riege neuer Interpreten persönlich betreut. Schon während der Aufführung kam es zu wiederholten Bravo-Rufen und spontanem Applaus für tolle Einzelleistungen. Am Ende wird das Ensemble zu Recht und John Neumeier für ein grandioses Ballett mit Standing Ovations bejubelt.
Bayerisches Staatsballett: „Illusionen wie Schwanensee“ von John Neumeier, Wiederaufnahme am 25. Mai 2025 an der Bayerischen Staatsoper. Nächste Aufführungsserie: Januar 2026