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02 MarcoGoeckeNach nur drei Vorstellungen entschwand das am 18. November 2021 von Ballettdirektor Martin Schläpfer präsentierte neue Programm „Im siebten Himmel“ des Wiener Staatsballetts den Blicken der Zuschauer. Der dreiteilige Abend ist Opfer der Pandemie geworden. Im Falle von Marco Goeckes Kreation „Fly Paper Bird“ (Musik: Gustav Mahler) – das Mittelstück des Programms – ist dies umso bedauerlicher, als die Nachgedanken und -bilder, die das Werk hervorrufen, sich im „Rückspüren“ erheblich zu weiten scheinen. 

Ob dieser Weiterungsprozess allein dem Nicht-mehr-sehen-Können oder tatsächlich der Besonderheit des Stücks geschuldet ist, kann also im Moment nicht überprüft werden. Feststeht jedenfalls, dass Goecke – und dies ist mittlerweile allgemeines Wissen – über eine unverwechselbare, daher sofort erkennbare choreografische Sprache verfügt, ein Charakteristikum, das er mit sehr wenigen Ballettschaffenden teilt. Doch dieser an sich als positiv zu wertende Umstand könnte auch gewisse Einwände mit sich bringen. Lässt sich, so könnte man überlegen, eine immer ähnlich anmutende körperliche Ausdrucksweise tatsächlich erfolgreich mit all jenen atmosphärischen Welten in Bezug setzen, in denen sich Goecke bewegt? Und: Lässt sich die einmal gefundene Sprache tatsächlich mit all jenen Komponisten in Einklang bringen, die der Choreograf für seine Arbeiten herangezogen hat? Des Weiteren: Kann sich eine derart distinkte tänzerische Sprache tatsächlich künstlerisch erfolgreich mit all den bereits gewählten Räumen ummanteln? Dass dies durchaus möglich ist, hat etwa Hans van Manen gezeigt, ein Meister, zu dem Goecke einige Beziehung zu haben scheint. Dass dies auch für Goecke gelten könnte, schlug schon 2006 der eminente Ballettkritiker Horst Koegler vor. Er meinte damals, man werde eines Tages von einem „Système Goeckien“ sprechen.

03 GoeckeFlyPaperBirdGestengezeter

Über dem neuen Werk für vier Tänzerinnen und sieben Tänzer, das erst knapp vor der Uraufführung den Namen „Fly Paper Bird“ erhielt, liegt ein Dunkel, dessen Ursache sich nicht erschließen will. Es ist weder einer Tageszeit – einem Kommen oder Verschwinden von Licht – geschuldet noch einer nicht ausreichenden Lichtquelle. Es handelt sich hier wohl eher um ein Stimmungs- oder Seelendunkel, das dem doch überaus lebendigen, zuweilen hektischen Geschehen eine eigene, sogar kontrastierende Note gibt. Das Dunkel wird umso rätselhafter, da es sich deutlich von jener äußersten, kraftvollen Sachlichkeit abhebt, mit der die Tänzerinnen und Tänzer den Ort des Geschehens – wo befinden wir uns eigentlich? – durcheilen. Schnell kommt die Frage auf, wer denn diese Tanzenden sind, denn nichts gibt über ihre Identität Auskunft. Fortwollen zeichnet sie aus. Die Grundgeschwindigkeit dabei, mit der sie das Werk insgesamt durchpulsen, ist zuweilen atemberaubend. Blitzschnell, wie von Stromstößen von Außenräumen in das Bühnengeschehen hineinkatapultiert und weitergestoßen, rennen sie, verharren allein oder in kleineren Gruppen, gehen Formationen ein, nur um wieder auseinanderzustreben. 04 GoeckeFlyPaperBird

Ihr Bewegungsduktus ist, wie schon erwähnt, sofort als unverwechselbar „Goecke“ zu erkennen, denn er durchfließt nicht den Körper. Völlig konträr zur klassischen Schulung der Ausführenden, hat man hier kein nach einer gesetzten Ordnung agierendes Ganzes vor sich, die Bewegung ist vielmehr – und dies mit einiger Brutalität – wie in Einzelstücke zerhackt. Es sind die Winkel der Gelenke, der Hände, der Arme, die verschobenen Schultern, die im Fokus der Bewegung stehen. Ständig knickt man in den Gelenken ein, wobei die Aktion sich auf den Oberkörper zu konzentrieren scheint. Scheibenwischern ähnlich fuchtelt man nervös, wie unkontrolliert, wischt die Arme in den verschiedensten Höhen – der Schulter, des Brustkorbs oder der Körpermitte – vor sich hin und her. Will man sich mit diesem Gestengezeter, das auch als ein fotografisch aufgefächerter Bewegungsablauf angesehen werden kann, selbst schützen, vielleicht Außenstehende oder Eindringlinge abwehren?

05 GoeckeFlyPaperBirdDie Unterkörper der Tänzer und Tänzerinnen bieten diesem Gestengezeter selten Paroli. Eine Ausnahme bildet zuweilen die Hüfte, die sich immer wieder verschiebt, als ob sie den ihr anatomisch zugewiesenen Platz überprüfen oder verlassen wollte. Ist die „richtige“ Position in der tragenden Mitte gefunden, wird das einmal Gefundene blitzschnell, und wie durch einen neuen elektrischen Impuls verursacht, zugunsten einer Veränderung aufgegeben. Meist tanzen die Tänzerinnen und Tänzer für sich selbst, keine der Begegnungen scheint Wandlungen in der Beziehung zueinander oder der Personenkonstellationen mit sich zu bringen. Selbst wenn man in einer Reihe zueinanderfindet oder hintereinander steht, wirkt dieser kurze Halt wie eine Selbstverkrallung. Erstaunlich ist dabei, dass man das Zugewiesene mit stoischer Miene und in konzentrierter innerer Ruhe ausführt. Die dunkel anmutende, für Tänzer und Tänzerinnen fast einheitliche Gewandung verdichtet die rätselhafte Stimmung. In äußerstem Tempo geht es weiter, wobei dieses Tempo immer kontrolliert bleibt, sodass man schnell die Idee fallen lässt, bei all dem könne es sich um unwillkürliche – sogar improvisierte – Bewegungen handeln. Unterbewusstes ist – dies ist wenigstens ein erster Eindruck – vielleicht Impulsgeber, der Wille des Choreografen und in der Folge der Tanzenden bleibt aber immer Herr über den Körper. Die Aktion ist auch bei zeitweiligem körperlichem Aberwitz kontrolliert und beherrscht. 06 GoeckeFlyPaperBird

Bei all dem Furor nimmt es nicht Wunder, wenn keine Geschichte erzählt wird. Umso mehr fragt man sich nunmehr eindringlicher: Wer sind diese Tanzenden, was für eine Identität haben die Ausführenden? Sind sie Menschen oder vielleicht andere Wesen? Oder sind es ganz einfach Goecke-Tänzer? Sagen sie uns also etwas über den Choreografen? Erzählen die Tänzer und Tänzerinnen von Verkrampfungen des Lebens? Von Goeckes Leben oder der Gesellschaft an sich? Wie groß auch die Verlockung ist, das Goecke-Stück dahin gehend zu interpretieren, so schnell revidiert man diese eher einengende Auslegung, denn man erkennt rasch, dass das – immer wieder geforderte – Verankertsein im Heute ein reichlich limitierter Anspruch ist. Denn: Dem „Heute“ ist ein nur kurzer Wirkungsraum beschieden, ist doch ein allzu sehr im „Heute“ verankertes Kunstwerk schon morgen gestrig. Goeckes Stück scheint doch über eine Zeitbezogenheit hinaus zu gehen, oder anders gesehen, es lässt sich vielschichtiger interpretieren. 

Die engste künstlerische Verwandtschaft befindet sich in Wien!

07 GoeckeMahlerNein, die Stadt Wien habe ihn bei seiner Arbeit nicht beeinflusst, so Goeckes Antwort auf eine diesbezügliche Frage. Eine ebenso enttäuschende wie unverständliche Aussage. „Irgendwie schon“, fügt er dann doch hinzu. Trotzdem möchte man ihm darob in Abänderung einer Tennisregel „Disadvantage Goecke!“ zurufen. Danach, etwas milder gestimmt, bedauert man den Choreografen, denn auf welche Galaxie Gleichgesinnter, vor allem aber Gleichbewegter und wohl auch Gleichbewegender hätte der gebürtige Wuppertaler da treffen können! Schon der erste: die unter „Strom“ stehende Persönlichkeit von Gustav Mahler, der immerhin zehn Jahre in ebendiesem Haus als Direktor wirkte, in dem Goecke nun arbeitete. (Alma Schindler kommentierte 1901 ihre erste Begegnung mit ihrem späteren Ehemann: „Wie ein Wilder fuhr er herum im Zimmer […] Man verbrennt sich, wenn man an ihn ankommt.“) Der Einwand, der Choreograf habe sich ja für sein Stück der Musik Mahlers, genauer zwei Sätzen der 5. Sinfonie, zugewandt, geht weitgehend ins Leere, denn erst die Beschäftigung mit dem unbändigen Bewegungsdrang dieses Komponisten lässt den wesentlichen – für einen Choreografen nicht gerade uninteressant – Impulsgeber für das künstlerische Werk Mahlers erkennen. (Siehe dazu die Gustav Mahler gewidmete „Wiener Tanzgeschichte“ „Mahler – ein Komponistenkörper als Katalysator zweier Künste“). Noch interessanter für Goecke wäre wohl die Begegnung mit den so unterschiedlichen Facetten der Wiener Moderne gewesen, die ganz allgemein gesehen nur Bereicherung sein können. Im Besonderen die Auseinandersetzung mit der Wiener Tanzmoderne, darüber hinaus mit den gerade in dieser Zeit oft von Theatralik erfüllten Künsten der Malerei und Grafik, aber auch mit der sich neu sehenden Medizin.08 GoeckeSchieleOsen

Vor allem Leben und Kunst des Malers, Bühnenausstatters und Performers Erwin Dominik Osen wären da zu nennen. Wobei freilich die überreiche Fantasie dieses schillernden Künstlers eine Annäherung in hohem Maß erschwert. Während Tanz- und Kunsthistoriker seit Jahren nach wichtigen Details der Biografie dieser von Schiele in Porträtzuschreibungen als „Mime“ und „Sänger“ ausgewiesenen Persönlichkeit suchen, hätte Goecke ohne Mühe einen Teilaspekt von Osens Werk in einer „Fokusausstellung“ studieren können, die im Rahmen der Dauerausstellung „Wien 1900. Aufbruch in die Moderne“ im Leopold Museum zu sehen war. Die von Gemma Blackshaw und Verena Gamper kuratierte Schau trug den Titel „The Body Electric: Erwin Osen – Egon Schiele (16. 04. – 26. 09. 2021) und widmet sich den „kaum bekannten Darstellungen von Patient*innen in medizinischen Einrichtungen von Erwin Dominik Osen (1891–1970) und seinem Künstlerfreund Egon Schiele (1890–1918)“. Einführend ist in den Pressetexten von der „dissonanten Seite der österreichischen Moderne“ die Rede, des Weiteren von der „Neubewertung des Körpers als Medium, vor allem um seiner selbst willen“. Und: Osen sei als Impulsgeber für die „Vitalisierung des Körpers in Schieles Kunst“ anzusehen.

09 GoeckeSchieleOsenVon innerer und äußerer Bewegung

Vom tanzhistoriografischen Standpunkt aus ist Osen sicherlich als einer der ersten modernen Bewegungskünstler (nicht nur) Wiens zu nennen. Als solcher hätte er auch den über hundert Jahre später agierenden Goecke interessieren können. Man hätte überlegen können, welche Antriebskräfte in heutiger wie in damaliger Zeit verwandte Bewegungsabläufe entstehen lassen. Solche Überlegungen müssten wohl damit beginnen, sich mit Osens Körperbildung auseinanderzusetzen, denn die Basis, mit der gearbeitet wird, ist doch für das Weitere entscheidend. Sosehr man diesbezüglich bei Goecke Bescheid weiß, so strittig sind Osens eigene Angaben. Denn wie so oft bei den Vertretern, häufiger bei den Vertreterinnen der sehr frühen Tanzmoderne, ist man über Osens Ausbildung und Werdegang nicht wirklich im Bilde. Seine eigenen Angaben erweisen sich zuweilen als wenig glaubhaft. Ein Studium in der Ballettschule der Hofoper kann genauso wenig bestätigt werden wie eine Förderung durch Gustav Mahler. An der Sparte Ballett bekanntlich nicht interessiert, beschäftigte sich der damalige Direktor der Hofoper nur in äußersten Fällen mit Ballettbelangen. Eine solche ist die 1907 erfolgte Besetzung der vielbegehrten mimischen Titelrolle der Neuinszenierung von Aubers „Die Stumme von Portici“, die er wohl durch einen neuen Tänzerinnentyp dargestellt haben wollte. Es war Grete Wiesenthal, die, vorgeschlagen von Alfred Roller, die Partie bekam. Verwendung von Osen in Kinderrollen – ein sehr beliebter Einsatz im Repertoire der Hofoper – konnten bislang ebenso wenig bestätigt werden wie spätere Auftritte außerhalb des Opernhauses, wofür es für die Tanzmoderne Gelegenheiten sonder Zahl gab. Ausführlich dokumentiert ist nur Osens Engagement 1914 als Bühnenbildner für die „erste Aufführung in Österreich“ von Wagners „Parsifal“ am Neuen Deutschen Theater in Prag. Dirigent war Alexander von Zemlinsky, der Osen in München kennengelernt hatte, Regie führte Paul Gerboth. Niemand Geringerer als Guido Adler rühmte Osen als „radikal Modernen, der allem Kitsch und Tand den Krieg erklärt“ und nennt Roller und Klimt als Vorbilder des jungen Künstlers.10 GoeckeSchieleOsen

Ihr Wirkungsfeld eroberte sich die Tanzmoderne in den Zwischenräumen beziehungsweise Übergängen von Hochkultur zum (neu gesehenen) Entertainment und der Volkskunst, den mannigfachen Reformbestrebungen, den Bildenden Künsten, der Theaterregie samt ihren neuen Räumen und dem neuen Einsatz des Lichts sowie der Wiener Werkstätte mit ihren Vertretern des Kunstgewerbes. Aber auch ausstellende Gäste hinterließen ihre Spuren: Die En-face-Gestalten Ferdinand Hodlers fanden bald den Weg auf die Tanzbühne. Dazu kamen psychologische und physiologische Erkenntnisse. Sich auflösende Gattungsgrenzen ließen neue Werkkonzepte entstehen, etwa die neue Spielart der Pantomime, eine Form, in der es zu einem engen Beziehungsgeflecht zwischen Literatur, Musik, Ausstattung und Bewegung kam. Die Bewegung selbst hatte sich vom Ballett und damit dem zugerichteten und stereotypisierten Körper gelöst. Bewusst drückte man sich nunmehr entsprechend den natürlichen Möglichkeiten des eigenen Körpers und der eignen Psyche aus.

11 GoeckeOsenDie Facetten des Getanzten waren – bei Tänzerinnen wie bei Tänzern – dementsprechend: Auf den Weg gebracht von der Tänzerin der fließenden Bewegungen in neuen Lichträumen, war Reformtanz nun wahrzunehmen vom Exotischen bis zum Selig-Schwingenden, vom Dekorativen bis zum Nervös-Emotionalen, vom Dämonischen bis zum Lieblichen, vom Tanzethnografischen bis zu Nackttänzen. Es gab Körper-AnalytikerInnen und Körper-RhythmikerInnen, die Bibel Auslegende oder auch eine einfach nur Peter Altenberg rezitierende Tänzerin. Dazu kamen „Lebende Plastiken“, „Marmorkörper“, „Seelendarstellerinnen“ sowie Maler- und Bildhauermodelle. Zuweilen wurden aber auch durch in Hypnose Tanzende Einblicke in Klinisches gewährt, wofür man den Begriff „Choreosomnambulismus“ prägte. Auch Darstellungen von Selbstmord und Morphiumkonsum wurden auf die Bühne gebracht. Es gab Exaltierte, zumeist Amerikanerinnen oder Engländerinnen, dazu Wienerinnen, die vorgaben, aus fremden Ländern zu stammen. Überdies stellte man – auch als gesellschaftliche Belustigung – Lebende Bilder. Die nach 1900 blühende Varieté- und Kabarett-Szene (etwa im Ronacher und Apollo, im „Nachtlicht“ und in der „Fledermaus“) bot dafür Auftrittsorte; Veranstaltungsorte waren aber auch Lokale von Künstlergemeinschaften, Galerien und Ateliers. Der neuen Gilde der TänzerInnen anzugehören, sich „frei“ tänzerisch zu bewegen, war in der Folge der „Beruf der Stunde“. Im Sog bahnbrechender Pionierinnen fand sich sehr schnell auch eine schier unübersehbare Schar von „Trittbretttänzerinnen“. (Siehe dazu den Exkurs am Ende des Artikels.)12 GoeckeOsen

Das Dunkel der Elektrizität

Das Körperwissen des Erwin Osen hatte ohne Zweifel – zumal als Roller-Schüler, als der er sich ausgab – in diesem künstlerischen Umraum seine Verankerung, und dies längst bevor er Schiele kennenlernte. Schieles Bewegungswelten bekamen in der Folge durch Osen ein noch höheres Maß an Expressivität. Die in seinen Bildern an sich im Oberkörper, in den Armen und Händen existierende knöcherne Groteske steigerte sich um ein Weiteres. Dies umso mehr, als es sich bei den Exponaten der oben erwähnten Ausstellung um Darstellungen von Opfern von Elektrizität handelte, jener Elektrizität also, die noch vor wenigen Jahrzehnten auf dem Theater unter größtem Jubel willkommen geheißen wurde. Sprühten ab den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts personifizierte elektrische Funken über die Ballettbühne – solche meint man auch, freilich entpersonifiziert, in dem neuen Goecke-Stück zu sehen –, so dokumentieren Osens und Schieles „Darstellungen von Patienten, die elektrotherapeutische Maßnahmen über sich ergehen lassen mussten“, Furchtbares. Diese Opfer litten an „posttraumatischen Belastungsstörungen“, die auch durch Kriegseinwirkungen entstanden waren. 

13 GoeckeNijinskiUnd das Sonderbare tritt nun ein: Die im Pressetext der Ausstellung formulierten Sätze zu den Arbeiten Osens (er war selbst einmal wegen „chronischer Neurasthenie“ oder „Nervenschwäche“ Patient gewesen) und Schieles lesen sich wie Beschreibungen von Goeckes Choreografie. Von Muskelzittern ist da die Rede, eckigen Schultern, gespreizten oder gekrallten Fingern, Kontraktionen von Gliedmaßen, Krämpfen, Augenflackern, Schwindel, von Mehrfachansichten, von aufgefächerter Bewegung, von motorischen Deformationen, von Dynamik, Suggestion und Tod. Durch den Kontakt zwischen Osen und Schiele werden die Bewegungen noch suggestiver, „nervöser“. Noch expressionistischer sowohl in den von Schiele im Krankenhaus gezeichneten Frauen und Babys, noch mehr in den Zeichnungen Osens von Insassen der psychiatrischen Klinik Am Steinhof. Auch der an sich schon ungeheuerliche Vorgang einer Behandlung von Patienten durch Stromschläge – man brachte Elektroden am Körper an – erweckt noch größeren Jammer, denkt man an das Schicksal des größten Tänzers dieser Zeit, Wazlaw Nijinski, der 1912 und 1913 mit beispiellosem Erfolg in Wien auftrat. Nur wenige Jahre später lieferte man ihn in ebendiese Klinik ein. Dass Goecke in diesem Fall tatsächlich in die Tanzgeschichte blickte und sich in einer Arbeit diesem Unvergleichlichen widmete, mutet dann doch logisch an. Gelang es Goecke vielleicht in dem 2016 für Gauthier Dance in Stuttgart entstandenen Stück „Nijinski“, die Vergangenheit durch die Gegenwart zu filtern? 

Einmal mehr: eine neue Sachlichkeit?

Den aufgezeigten Analogien der Bewegungswelten zwischen der Wiener (Körper-)Moderne und der Arbeit von Goecke zum Trotz, gilt es doch, sich einzugestehen, dass die Beschäftigung mit der Tanzvergangenheit das eine, eine neue Arbeit zu kreieren etwas anderes ist. (Und im Zuge dieser Erkenntnis gibt man auch das geplante Vorhaben auf, an die Seite und vergleichend mit Goeckes Körpersprache Franz Kafkas Zeichnungen von gequälten Kreaturen zu stellen. Siehe dazu: Andreas Kilcher [Herausgeber], „Franz Kafka. Die Zeichnungen“, C. H. Beck, München 2021). 14 GoeckeProbe

Im Angesicht von „Fly Paper Bird“ aber, vor allem angesichts des Entstehungsprozesses dieses Werks, kommen allerdings erneut Fragen auf. Denn: Sind die oben erwähnten von Osen und Schiele festgehaltenen Körper offensichtlich Dokumente äußerster Erschütterung vonseiten der beiden Maler, so scheinen sich hinter den ganz ähnlichen Bewegungen Goeckes andere Antriebskräfte zu verbergen. Offenbar völlig losgelöst von jeglicher Emotion, entstehen hier die sehr exaltierten Körpertorsionen, wie in einem Stream des Wiener Staatsballetts zum World Ballet Day 2021 zu sehen ist, allein um ihrer selbst willen. Dementsprechend gelöst – jedoch nicht ohne Spannung – ist die Stimmung, die man in kurzen Probenausschnitten des Stücks sehen kann. Hier sind sie also: die gewinkelten Gliedmaßen, die flachen Hände, die gespreizten oder gekrallten Finger, die verschobenen Schultern und Hüften, das vor dem Oberkörper nervöse Wischen der Unterarme. Das Stück entsteht, man sieht es gleichsam in statu nascendi. Knapp, leidenschaftslos, spontan, intuitiv, zuweilen amüsiert, zuweilen sarkastisch, dazwischen singend, hauptsächlich englisch, aber auch in anderen Sprachen, immer kraftvoll, gleichsam aufgeladen, gibt Goecke drei Tänzern (Davide Dato, Marcos Menha, Duccio Tariello) seine Anweisungen. Im Ballettsaal herrscht Stille, man probt ohne Musik. Zuweilen gibt Goecke mit gutturalen Lauten den Rhythmus an. Eine Sechsersequenz wird studiert, zwei Tänzer stehen vor Goecke, einer davon erhält die Anweisung: „Versuch es allein“, „Mach die Sechs allein“, „Don᾽t think too much“, „Das Ganze nur smaller, smaller!“ „Very fast, very fast, abstract, almost ruin it“, und: „Mach es mit solcher Energie, dass du dich nachher krankschreiben lassen musst.“ Dazwischen taucht gedanklich ein Michelangelo-Engel auf. Dann wieder eine Bewegung: „Pervert it!“ „Pervertier es noch mal“. Goecke singt zwischendurch von Liebe, mehr noch von „revenge“, später „I gonna learn how to fly“. Die Tänzer führen die hektischen Bewegungen konzentriert und völlig für sich aus. Dies auch, wenn sie dicht aneinandergedrängt stehen und sich mit steifen Beinen wie ein einziger Körper mechanisch fortbewegen. Ein dritter Tänzer kommt hinzu. Goecke singt wieder, das Gesungene ist offenbar so bekannt, dass die Tänzer mit einstimmen. Dann wieder Goecke: „Mach das auf Schulterhöhe“, hört man da, von etwaigen Interpretationen ist keine Rede. „Versuche es auf einer anderen Ebene.“

So absichtslos die ebenso spontanen wie knappen Sprüche Goeckes auch zu sein scheinen, sie sind sicherlich nicht ohne Belang, denn Goecke ist kein „metaphysischer Obdachloser“. Assoziationsketten sind zu erkennen, zwischen den Anweisungen fällt dann plötzlich der Name Emily Dickinson. In der Folge lässt man den anfänglichen Verdacht fallen, das im Laufe des Werks von Rebecca Horner geflüsterte Gedicht Ingeborg Bachmanns wäre allein als Wortspende für jene ZuschauerInnen gedacht, die die Qualität einer Choreografie von Sprech- oder Begleittexten eines Balletts ableiten. (Besagte Wortspenden dienen all jenen RezipientInnen, die in der Bewegung an sich weder künstlerische Qualität noch intellektuelle Herausforderung sehen können oder wollen. Allein die Qualität eines begleitenden Textes kennzeichnet ihnen die Qualität eines Werks. Gefällt der Text aber nicht, so hat die Choreografie keine Chance.)

15 GoeckeFlyPaperBirdBei dem eben geschilderten Entstehungsprozess, der, wie erwähnt, ohne Verwendung von Musik vor sich geht, fragt man früher oder später nach dem Stellenwert der Musik im Werk Goeckes. Dies nicht nur ganz allgemein, sondern nun im Besonderen, denn der erwählte Komponist in „Fly Paper Bird“ heißt bekanntlich Gustav Mahler. Warum wurden gerade diese zwei Sätze von Mahlers Sinfonie ausgesucht und was für eine Rolle spielen sie? Die spontane und reichlich destruktive Antwort könnte lauten: „Vielleicht keine?“. Dies aber nur bis zu jenem Zeitpunkt, zu dem das Werk auf der Bühne zu sehen ist. Wenn dann das machtvolle Klangvolumen der Musik Mahlers die Staatsoper erfasst, der Raum gleichsam vibriert und man dazu die wie unter Strom stehenden, kraftvoll-stürmenden Tänzerinnen und Tänzer vor sich sieht, meint man mit einem Mal, die Körperlichkeit der Musik habe auf ebendiesen Choreografen gewartet.

Fragen, die bleiben, sind: Wie können zu so verschiedenen Zeiten – um 1910 und 2021 – derart ähnliche Bewegungssprachen entstehen? Und: was sagt es über unsere Zeit aus, wenn Bewegungen, die vor mehr als hundert Jahren Protokolle von Schrecklichstem waren, nunmehr ohne jegliche Emotion ausgeführt werden? Oder anders formuliert: Gehören Körpercharakteristika des Schreckens von damals zu den Alltagsbewegungen von heute? Und: Wie wird sich das in hundert Jahren verhalten?

Exkurs

Auswahl der 1892–1914 erfolgten Wiener Debüts im Bereich des nichtklassischen Tanzes: 1892 Carolina Otéro (Danzers Orpheum). 1895 Sisters Barrison (Ronacher). 1896 Consuelo Tortajada (Venedig in Wien). 1897 Valentine Petit (Venedig in Wien). 1898 Loïe Fuller (Ronacher). 1899 Saharet (Venedig in Wien). 1901 Odette Valéry (Ronacher); Cléo de Mérode (Danzers Orpheum). 1902 Sada Yacco (Theater an der Wien); Isadora Duncan (Hotel Bristol). 1903 Rosario Guerrero (Danzers Orpheum); Artemis Colonna (Venedig in Wien); Maud Allan (Musikverein). 1905 Madeleine (Palais Thurn und Taxis); Bessie Bruce (Casino de Paris). 1906 Rita Sacchetto (Galerie Miethke); Gertrude Barrison (Nachtlicht); Mata Hari (Secession); Grete, Elsa und Berta Wiesenthal (Atelier Rudolf Huber). 1907 Ruth St. Denis (Ronacher). 1908 Sulamith Rahu (Fledermaus); Hanako (Ronacher); Tortola Valencia (Ronacher); Irene Sanden (Fledermaus). 1909 Macara (Fledermaus); Ma[g]deleine G. (Palais Biedermann); Olga Desmond (Apollo); Vorführung Rhythmischer Gymnastik Émile Jaques-Dalcroze (Musikverein); Myosa [Moa Mandu?] (Casino de Paris)*; Odys (Künstlerhaus). 1910 Gaby Deslys (Apollo); Sent M’ahesa (Kleine Bühne); Bessie Clayton (Apollo). 1911 Stasia Napierkowska (Apollo); Adorée Villany (Künstlerhaus). 1912 Fritzi von Derra (Secession); Kitty Starling (Ronacher). 1913 Suzanne Perrottet (Choreografie in der Hofoper); Constance Stewart-Richardson (Volksoper); Ellen Tels (Apollo); Rita Aurel (Neue Wiener Bühne); Lucy Kieselhausen (Beethoven-Saal). 1914 Mabel Delroy (Beethoven-Saal); Clotilde von Derp und Alexander Sacharoff (Apollo); Delsartismus-Vorführung Käthe Ulrich (Urania).

16 GoeckeOsen*Die von Altenberg im Herbst 1909 im Casino de Paris „entdeckte“ Tänzerin Myosa und die Tänzerin Moa Mandu werden in der Literatur als ein und dieselbe Person gesehen. Moa Mandu war Partnerin Osens in pantomimischen Darbietungen und ging als Modell von Schiele und Osen in die Kunstgeschichte ein. Sie stammte vermutlich aus Mostar, wirkte auch als Filmdarstellerin („Der Hirt von Maria Schnee“, Regie: Iwa Raffay, Berlin 1919), wurde von Erwin Piscator beschäftigt und trat 1922 in Paris in der Comédie des Champs-Élysées auf, worüber André Levinson und Fernand Divoire schrieben und „La Danse“ einen ausführlichen Fotobericht brachte. Bildliche Darstellungen von Moa Mandu schufen auch Vicente do Rego Monteiro, André Domin und Leo Leuppi. – 1926 berichten Zeitungen vom Tod der angeblich 26-jährigen (!) Tänzerin Myosa (eigentlich Lucienne Condrey) in Berlin, die in Mario Corsis Film „Frate Sole“ (Regie: Ugo Falena, Rom 1918) mitgewirkt und 1920 in Rom mit Filippo Tommaso Marinetti und Enrico Prampolini gearbeitet hatte und zuletzt in Berlin in der Haller-Revue „An und Aus“ im Admiralspalast sowie in den Varietés Faun des Westens und Wintergarten aufgetreten war. Als Todesursache wird eine Schminkvergiftung genannt. 

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