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Giselle8Für Alessandra Ferri,  Primaballerina und nunmehrige Direktorin des Wiener Staatsballetts, war Giselle die Paraderolle. Ihre tiefgehende Kenntniss des Balletts in unterschiedlichen Fassungen hat sie nun an die Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts weitergegeben. Das Publikum erlebte in dieser Wiederaufnahme eine subtil veränderte Sicht auf das Werk – und die facht die Begeisterung für dieses Meisterwerk der Romantik erneut an. 

“Giselle” ist die Geschichte einer fundamentalen Transformation und für die Tänzerin ein kompletter Rollenwechsel vom 1. zum 2. Akt. Im ersten Akt verliebt sich das junge Bauernmädchen Giselle in Albrecht, der seine wahre Identität als Herzog vor ihr verbirgt. Sie feiern inmitten der Dorfgemeinschaft das Erntedankfest, in das die Jagdgesellschaft des Herzogs von Kurland und seiner Tochter Bathilde, der Verlobten von Albrecht, platzt. Als Albrechts Doppelspiel von dessen Rivalen Hilarion aufgedeckt wird, verliert Giselle über dessen Verrat den Verstand und tanzt sich zu Tode. Im 2. Akt begegnet Albrecht Giselle an ihrem Grab, als sie von Myrtha, der Königin der Wilis, zur Geisterstunde gerufen wird. Sie versucht ihn vor der Rache der Wilis zu retten, die jeden Mann, der nach Mitternacht in ihr Revier kommt, zu Tode tanzen. Hilarion war diesem Schicksal ausgeliefert, doch Giselle setzt alles daran, um Albrecht zu schützen. Er überlebt.Giselle1

Als junge Ballerina hat Alesssandra Ferri die Fassung von Mikhail Baryshnikov beim American Ballet Theatre einstudiert. Ihr Coach war die dortige Ballettmeisterin Elena Tschernischova, die als Direktorin des Balletts der Wiener Staatsoper (1991 bis 1993) hier “Giselle” in einer minimalistischen Fassung inszeniert hat. Einzige Farbtupfer in der schwarz-weißen Ausstattung ist das blaue Kostüm Giselles und die rote Robe ihrer Widersacherin Bathilde.

Was im Programmheft keine Erwähnung findet, ist die die tanzhistorische Bedeutung dieses Balletts, hat man es doch aus dem Bogen der Erinnerungen an das 70-jährigen Gedenkjahr zur Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper nach dem 2. Weltkrieg offenbar ausgeklammert. Jedenfalls kehrte das Ballett der Wiener Staatsoper mit “Giselle” in der Fassung von Gordon Hamilton 1955 in das Haus am Ring zurück. 

Giselle3Dramaturgisch klug verändert …

Doch zurück zur Gegenwart: Choreografisch hat Alessandra Ferri nur sehr punktuell Veränderungen vorgenommen. So hat sie Tschernischovas Idee, aus dem Bauern-Pas de deux einen Pas de quatre zu machen (indem sie Giselle und Albrecht mit einem Bauernpaar tanzen ließ), weiterentwickelt und präsentiert die Nummer nun als Pas de six.

Es ist aber vor allem die Rollengestaltung, die dem Ballett ein neues Gesicht verleiht und das Narrativ schlüssiger macht. Die Herzschwäche von Giselle, der sie nach Aufdeckung des Doppellebens ihres angeblich Verlobten, erliegen wird, wird im ersten Akt wiederholt thematisiert, sowohl von der Mutter als auch von ihr selbt. Immer wieder wandert die Hand ans Herz, sei es um die Krankheit zu beschreiben oder das verschenkte Herz der Liebe anzudeuten. Die Rolle der Mutter Berthe ist um einiges intensiver gestaltet worden. Erzählte sie bisher die Geschichte von den Geisterwesen, den Wilis, in die sich Mädchen, die vor ihrer Heirat sterben verwandeln, als kenne sie sie vom Hörensagen, so fällt sie nun in Trance, in der ihr die Geisterwesen erscheinen. Größere Bedeutung erhält auch die Partie von Albrechts Freund Wilfried, der seine Bedenken über dessen Verhalten klar und bestimmt zum Ausdruck bringt und ihn vehement daran hindert, auf Hilarion mit dem Degen loszugehen.

Im zweiten Akt wird der Pas de deux von Giselle und Prinz Albrecht extreGiselle5m verlangsamt. Das macht auch dramaturgisch Sinn, wird damit doch die Geisterstunde, in der die Wilis ihre Opfer zu Tode tanzen lassen, verkürzt. Das Ende, wie Prinz Albrecht nach der Begegnung mit Giselle im Wald zurückbleibt, hat sich im Laufe der Jahre immer wieder verändert. Nun geht er an den Bühnenrand und bleibt dort einfach stehen.

… und gut besetzt

AlessaGiselle10ndra Ferri ist bei der Besetzung klug vorgegangen. Was nach wenigen Minuten klar wurde: die Tänzer*innen des Wiener Staatsballett haben wieder zu ihrem alten Animo zurückgefunden. Das in den letzten Jahren vernachlässigte klassische Repertoire wird nun wieder gepflegt und gehegt und das Ensemble ist mit vollem Engagement und Einsatz dabei und agiert wieder durchwegs als ein gut aufeinander abgestimmter “corps”. Die erste Vorstellung am 18. September wurde zum Großteil von Wiener “Stammtänzer*innen” interpretiert: in den Hauptrollen glänzten Elena Bottaro und Masayu Kimoto, Giorgo Fourés tanzte Hilarion, Mutter Berthe wurde von Iliana Chivarova, Myrtha von Ioanna Avraam interpretiert. Sie alle konnten grundsätzlich in ihren Partien überzeugen.Giselle4

Die Differenzierung der Rollen gelang allerdings tags darauf mit der neuen Ersten Solistin beim Wiener Staatsballett (und vorherigen Principal Dancer beim American Ballet Theater), Cassandra Trenary, noch besser. In einer vehementen und dramatischen Wende mutierte sie im ersten Akt von der jungen, unschuldig Verliebten zur wahnsinnig Tobenden. Diesem Spiel folgte Davide Dato zuerst als charmanter Filou, der nach Giselles Tod zwischen Verzweiflung, Rage und Orientierungslosigkeit oszilliert. Im zweiten Akt ist Trenary ganz vergeistigtes Wesen, das nur für ihren Geliebten und für einige Momente irdische Gestalt anzunehmen scheint. Die Rettung Albrechts versteht Dato als einen Akt der Läuterung: Er tritt vor das Publikum als erwarte er sein Urteil. Rinaldo Venuti, der bereits in der erste Vorstellung im Bauern-Pas de quatre mit seiner sauberen Technik (an der Seite von Margarita Fernandes) auffiel, glänzte am zweiten Abend als Hilarion, Franziska Wallner-Hollinek vermittelte wie selbstverständlich den spirituellen Geist der Mutter, Rosa Pierro, ebenfalls neu im Ensemble, gab eine unerbittliche Myrtha.

Giselle7An beiden Abenden fiel Gaia Fredianelli sowohl im Bauern Pas de quatre als auch als Wili Zulma, eine Begleiterin von Myrtha, als einfühlsame, vielfältige Tänzerin auf.

Einen großartigen Verbündeten hat Alessandra Ferri für die Wiederaufnahme auch im musikalischen Leiter Luciano Di Martino gefunden, der Adolphe Adams Musik ganz ihrem dramaturgischen Sinne wunderbar interpretierte. Giselle6

Nach diesem gelungenen Start der neuen Direktorin werden sich am 23. September Laura Fernandez Gromova als Giselle, António Casalinho als Albrecht sowie Alessandro Cavallo als Hilarion dem Wiener Publikum vorstellen.

Wiener Staatsballett: “Giselle” am 19. und 20. September in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 22. und 23. September sowie im April und Mai 2026

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