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void2Als alljährliches Tüpfelchen auf dem i der freien Münchner Tanzszene darf man mittlerweile die „Tanzwerkstatt Europa“ (TWE) bezeichnen. Das zu erreichen, hat gedauert und war ebenso schwer, wie diesmal Restkarten für die abendlichen Performances zu ergattern. Fast 3000 Teilnehmende sorgten zudem für rekordverdächtig volle Workshop-Kurse. Die Auslastung der sieben unterschiedlichen Gastspielvorstellungen und das Überraschungspaket „Who’s Next?“ mit sechs kurzen Stücken lag bei beachtlichen 91 Prozent. 

Gerade in Zeiten knapper werdender Budgets ergibt das eine mehr als zufriedenstellende Bilanz für das elftägige Festival mit seiner bereits 34-jährigen Tradition. Hier wird sowohl Newcomern eine Plattform geboten als auch international renommierte Choreografen immer wieder an die Isar geholt. Das heterogene Performanceprogramm 2025 wurde mit Wim Vandekeybus՚ neuestem Stück „Void“ fulminant eröffnet.void1

Wim Vandekeybus

Den Sound ihrer Trommel hat die Tänzerin im Kopf. Dem Instrument kann sie aber keinen einzigen Ton entlocken. Sobald sie die Schlegel auf das Trommelfell niedersausen lassen will, durchzuckt ihren Körper ein Schub von (Auto-)Agression. Mit dieser „Macke“ taucht sie als erste auf – wie aus dem Nichts. „Void“ – so der Titel von Wim Vandekeybus՚ neuestem Stück – scheint Programm. Denn er lässt sich auch mit „Leere“ übersetzen. Dabei rasen die 90 Minuten, die „Void“ dauert, am Zuschauer regelrecht vorbei. So reich sind sie mit akustischen und visuellen Ereignishorizonten angefüllt, die stets etwas manifestieren. 

void4Im Mittelpunkt stehen sechs Figuren, die innerlich immer wieder in ihre Marotten abdriften, physisch explodieren, sich in ihrer Persönlichkeit schier schizophren in zwei Wesen aufspalten und nicht ohne Charme, allerdings stets durchaus drastisch entweder das Abseitige oder das Rebellische verkörpern. Ihre Leiber schießen quer und höchst akrobatisch durch die Luft, sogar wenn sie nebenbei reden. „Void“ konfrontiert das Publikum überaus feinfühlig mit einem Häufchen Ausgestoßener. Jeder, der die Bühne betritt, mag anfangs noch in seiner eigenen Blase gefangen sein. Doch Choreografen vom Kaliber eines Vandekeybus haben immer Lösungen parat, um Mauern einzureißen: Bei „Void“ sind das über die Bühne rollende Teller. Sie dienen – wenn auch bloß für kurze Zeit – als Aufforderung zu einem gemeinsamen Spiel. void3

Seit bald 40 Jahren mischt Wim Vandekeybus mit seiner in Brüssel beheimateten Kompanie Ultima Vez die Tanzszene radikal auf. Seine Stücke haben etwas Wildes, innerlich Ungestümes an sich. Sie sind substanziell gewaltig, physisch intensiv und bis heute voller roh in den Raum geworfener Botschaften, die das Publikum beständig und oft im Unterbewussten zum individuellen Entschlüsseln derselben auffordern.

Im Rahmen der seit 1991 in München von Walter Heun kuratierten Tanzwerkstatt Europa waren immer wieder Produktionen und sogar eine Uraufführung des belgischen Choreografen zu Gast. Dass dieser nun – quasi als bekannter Altmeister – die diesjährige Werkstatt für neue Ideen und Ästhetiken in Sachen Bewegungskunst mit seiner jüngsten Kreation eröffnet, ist absolut schlüssig. Zugleich setzt Vandekeybus՚ „Void“ die Messlatte ziemlich hoch für die bis zum Festivalende folgenden abendfüllenden Arbeiten.

Moritz Ostruschnjak

OstruschnjakSchlusslicht des aktuellen, ganz ohne richtigen Schocker oder überflüssig Nackte auskommenden Programms war die – mit Recht heftig bejubelte – Wiederaufnahme von Moritz Ostruschnjaks „Non + Ultras“: ein inhaltlich rundum passendes Pendant zu Wim Vandekeybus՚ Eröffnungsproduktion „Void“, die sich als aufrüttelndes Mehr-Verständnis-Plädoyer für alles Abseitige zeigte. Ostruschnjaks seit seiner Premiere Anfang dieses Jahres in München stark nachgefragtes Werk für acht Tänzerinnen und Tänzer wurde – sehr zum Vorteil des dramaturgischen Bogens – etwas gestrafft. Unangetastet geblieben ist die Verwendung der ungefähr 500 Fanschals, anhand derer vergleichbare Verhaltensphänomene zwischen Fankultur und Faschismus sowie gefährliche Massendynamik über den Fußball hinaus ausgelotet werden. Thematisch fokussiert mit stets unerwarteten Brüchen, stark assoziativ, frei sozialkritisch lesbar und gruppendynamisch so energetisch wie emotional-toll-individuell zogen die dauergeforderten Performer beider Stücke die jeweiligen Zuschauer in ihren Bann.Ostruschnjak2

Hannah Schillinger, Ian Kaler

SchillingerDas versuchte auch die 29-jährige Hannah Schillinger in der einzigen TWE-Uraufführung. Bereits letztes Jahr hatte sich die Münchnerin in einem beschaulichen Solo mit sperrigem Netzgebilde beim beliebten Tanzwerkstatt-Nachwuchsformat „Who’s next? Open stage“ vorgestellt. Aufgestiegen ins Hauptprogramm stellt sie nun die Landwirtschaft in den Fokus ihrer künstlerischen Recherche. Ihr Bestreben, gemeinsam mit dem Performer Aaron Lang Parallelen zwischen körperlicher Arbeit und zeitgenössischem Tanz aufzuspüren sollte laut Ankündigung „mit einem queer-feministischen Blick auf alpenländische Kultur und Folklore“ verquickt werden. Ian Kaler

Doch Schillinger packte einfach zu viel von mysteriös-fiktionalem Textinput, Stimmwerk, Klangimpressionen und Requisiten bis hin zu einer Drohne in ihr Duo „field work“ mit Livesound-Begleitung hinein. Dennoch gelangen der Münchnerin eindrückliche Bilder – insbesondere mit zwei sperrigen Mistgabeln und Dreschflegeln. Weniger wäre hier wohl mehr gewesen. Ian Kalers Solo „And for the time being“ – mit vorab bzw. hinterher ebenso langer ergänzender Video-Installation „Sentient Beings“ – blieb wiederum zu introvertiert verschlüsselt, um über eine selbstreferenzielle Poetik eines landschaftlich gestalteten Raums mit projiziertem Pferd als Alter Ego und begleitenden Texten als weiterer Erzählebene hinauszureichen.

Magdalena Reiter

ReiterDen Blick auf unterschiedlich zu interpretierende Stimmungen einer Beziehung weitete dagegen technisch raffiniert das Tänzerpaar Jerca Rožnik Novak und Beno Novak in Magdalena Reiters „Quartet“. Zwei Livekameras, die herkömmliche visuelle Erwartungen erst einmal auf verblüffende Weise außer Kraft setzen, machen es möglich, das Miteinander gleichzeitig aus verschiedenen – und künstlerisch verdrehten – Perspektiven zu verfolgen. Ein kinematografisches Erlebnis. Pech war allerdings, dass beim Wechsel der Kameraposition vom Stativ in die Hand des Tänzers beide zur Verfügung stehenden Geräte nacheinander ausfielen. Erst nach einer Zwangspause konnte die eindrücklich auf die Spitze getriebene Verknüpfung zwischen Choreografie und filmischem Erzählen fortgeführt werden.

Aurora Bauzà & Pere JouAurora

Tanz boomt – und mit ihm die Neugier auf neue Strömungen und kreative Ideen. Die Nase ganz vorn hatte dabei das spanische Duo Aurora Bauzà & Pere Jou. Ihre anfangs komplett im Dunkeln rein stimmlich ansetzende Arbeit „A beginning #16161D“ begeisterte das Publikum restlos. Der Clou bei diesem um Hoffnung und einen Neuanfang kreisenden, fast sakral anmutenden Werk sind kleine Lämpchen. Die fünf vokal fabelhaften Protagonisten haben diese während ihrer körperlich zurückgenommenen Klangreise an ihren Handflächen befestigt. Einzelne Gesichter und zum Schluss sich in einer rastlosen Licht-Dunkel-Architektur wie Mäuler öffnende Arme werden damit geheimnisvoll zum Leuchten und der gesamte Raum zum Tanzen und optisch ins Rotieren gebracht.

Jefta van Dinther

JeftaVanDintherTags darauf setzt Jefta van Dinther in „Remachine“ eine Drehscheibe ein. Und der schwedisch-niederländische Choreograf, dessen Werken stets etwas fast meditativ und undefiniert Spirituelles anhaftet, lässt seine sechs Interpreten ebenfalls singen. Der seit langem in Berlin beheimatete Choreograf war zuletzt im Mai mit seiner zeitlich ausufernden und frei begehbaren Performance „Ausland“ in München präsent. Um das fragile Zusammenspiel zwischen Menschen und einer mechanisierten Umgebung zu erforschen, benötigen seine sechs Protagonisten – permanent in Bewegung, ohne je wirklich auf der rotierenden Holzscheibe von der Stelle zu kommen – in „Remachine“ zum Glück nur eine Stunde. Diese hat es umso nachhaltig-eindrucksvoller in sich. Atmosphärisch mag sich aber keine wirklich vergleichbar intime Verzauberung einstellen wie am Vortag bei Bauzà & Jou. Vom Rand der Scheibe, die selten verlassen wird und an deren Unterseite sich manche im Verborgenen mitschleifen lassen, arbeiten sich van Dinthers Tänzerinnen und Tänzer langsam in immer anderen Konstellationen und Bewegungsmodi bis zur Mitte vor, um von dort erneut – nun an Seile gebunden und in der Schräge stehend – der Fliehkraft zu trotzen.JeftaVanDinther

Manchmal reicht sogar ein einziger – im besten Fall wirkungsvoller – szenischer Einfall, um ein komplettes Stück choreografisch variantenreich zu füllen. Bei der diesjährigen TWE war das einige Male zu beobachten. Einen programmatischen Anspruch hatten jedoch alle Beiträge gemeinsam: die Auseinandersetzung mit Zwischenmenschlichkeit.

Tanzwerkstatt Europa, 5. bis 15. August 2025 in München