Inhaltlich wie formal erweitert sich La Strada, das internationale Festival für Straßenkunst, Figurentheater, Neuen Zirkus und Community Art, seit langem schon Jahr um Jahr. Dazu und zu einem weiteren zirzensischen Höhepunkt zählen die folgenden außergewöhnlichen Veranstaltungen nicht nur als überzeugende, sondern auch als überaus begeisternde Beispiele.
Bei allem immer wieder niederschwellig Unterhaltsamem in den 26 Produktionen, die in 121 Vorstellungen gezeigt werden, ist fast ausnahmslos immer auch ein tiefgründiger Ansatz, ein nachhaltig denkanregender, perspektivenerweiternder integriert oder auch deutlich im Fokus.
In der belgisch-niederländischen Produktion „Inside Out“ wird der Teilnehmende etwa auf sich selbst verwiesen, auf seine Propriozeption, also seine körperliche Selbstwahrnehmung. Eingehüllt in einen Unterdruckanzug vermitteln die Choreografin Boukje Schweigman und der Performer Johannes Bellinkx in der immersiven Installation dem Interessierten sensorisch weitgehend Unbekanntes: Die Haut als bewusstgemachte Grenze zwischen dem eigenen Innen und dem Außen; also auch zwischen dem ureigenen Individuellen und dem Öffentlichen. Der wechselnde Druck sensibilisiert dafür zusätzlich, schafft An- und Entspannung, bei dem die einen Bedrohung und Erleichterung, die anderen entspannenden Halt und befreiende Leichtigkeit empfinden. Diese gegensätzlichen Reaktionen der Teilnehmenden machen die jeweils individuelle Rezeption eindringlich bewusst, verstärken damit (vielleicht) die Toleranz den anderen, dem Fremden gegenüber.
Vom zumeist wenig Bekannten lässt auch das Kunstlabor Graz in seinem Projekt „Den Blick über die Schulter werfen“ erzählen. Einen authentischen Blick auf das Leben von Frauen in der steirischen Region rund um den Dachstein vermitteln im Rahmen einer anregend informativen und gut arrangierten Erzähl-Performance Spielerinnen sowie dort Lebende. Es sind Schilderungen des heutigen Alltags von Frauen in der Ramsau sowie in einem Fall der berührende biografische Rückblick einer von ihnen, die zeitlebens „ihren Mann“ stehen musste. Dokumentarische Kunst der sehr gelungenen Art.
Vergleichbar, in gewisser Weise auch inhaltlich, mit Christoph Hubers fotografisch feinsinnig gestaltetem, ‚bebildertem Hörspiel‘ „Gestern hots gregnt“. Der Ennstaler Fotograf baut seinen gemächlich-ruhigen, weder unspektakuläre oder alltägliche noch dramatische sowie faszinierend ungewöhnliche Perspektiven scheuenden Bilderreigen rund um Hüttenbucheintragungen in einer abseits gelegenen, einfachen Almhütte. Diese Kurz- und Kürzest-Texte, vorgetragen von unterschiedlichen Sprechern, verknüpft Klaus Meisnitzer eng mit seiner atmosphärisch treffsicheren Musik. Sie lässt gemeinsam mit dem Verbal-Visuellen nicht nur Menschen und ihr Leben, sondern auch die Jahrzehnte seit den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, ihre ebenso kleinen wie großen und entscheidenden Veränderungen zu einem poetischen (Kopf-) Film der ganz besonderen, der nachhaltigen Art werden.
Dries Verhoeven (Niederlande) zieht in seiner Installation „Everything must go“ den Zuseher beinhart in die problembehaftete, vielfach gespaltene Realität unserer kapitalistischen Welt. Mit unverblümter, aber auch mit derber Direktheit sowie mit ebenso feinsinniger wie verführerischer Logik lässt er seine Protagonistin im Schneewittchen-Outfit mit Gesichtsmaske eine Stunde lang argumentieren: In einem abgeschlossenen, durch die Regalwände eines punktuell einsichtig arrangierten Raums eines fingierten Supermarkt-Gangs; beobachtbar auch auf zahlreichen Monitoren im Raum darum.
Eng verstanden geht es in diesem Monolog um das Selbstverständliche respektive um das Verwerfliche des heimlichen Nehmens, des Stehlens. Man erfährt von den unterschiedlichen Typen dieser Art des Agierens, der jeweiligen ‚Berechtigung‘ dazu und auch davon, wie man es am besten macht, um nicht ertappt zu werden. Das amüsiert zum Teil in seiner Ernsthaftigkeit der herbeigeredeten oder doch ‚eigentlich auch‘ stimmigen Logik; aber auf jeden Fall greift der Redeschwall immer öfter immer tiefer, wird immer allgemeiner und damit zu allgemeingültigen Fragen nach Gerechtigkeit, Verantwortung, Machtausübung und Moral – nach den Werten unserer Gesellschaft. Großartig – faszinierend in seiner Verunsicherungstaktik und damit der nachhaltigen Infragestellung des eigenen Denkens, Handelns und Beurteilens.
Ein akrobatisches Tanzen im steten Fluss; leise und laute Dialoge expressiver Körper: So in etwa ist die scheinbare Leichtigkeit geschmeidig ineinander übergehender Szenenfolgen in „Play Dead“ zu beschreiben. People Watching, eine erst 2020 gegründete und in Kanada beheimatete Gruppe, setzt sich sichtlich aus hochprofessionellen, international erfahrenen Künstlern und Künstlerinnen zusammen. Der von ihnen gewählte Namen ihrer Compagnie scheint Programm: Sind es doch sehr feinfühlig kluge Wiedergaben zutiefst menschlicher Begegnungen und Verhaltensweisen.
In all dieser verspielten Exzentrik – die nicht selten einen realitätsnahen Bezug aufweist -, in dieser leichtfüßigen Verträumtheit des immer wieder auch absurden Tuns, hat auch noch der Witz von Überraschungen und Humor in Mimik und Gestik seinen Platz. So besteht auch keine Scheu, eine überaus köstlich persiflierende Bodybuilder-Szene einschließlich vorgegebenem Karaoke einzustreuen.
Dass bei all dem kein bühnentechnischer Firlefanz notwendig ist, liegt auf der Hand. Wohl überlegt ist der Einsatz von Musik und Szenen in völliger Stille, der Wechsel von hoher Dynamik zu Stillstand, der Einsatz von sich in der Wiederholung steigernden und wellenartig abflauenden Bewegungssequenzen und ein punktgenaues, ebenso einfaches wie wirkungsvolles Lichtdesign: Diese derart erreichte, innovative Ästhetik aus Neuem Zirkus und physischem Theater greift in bezaubernder Weise.
La Strada Graz 2025, 25.Juli-2.August.