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Walzerwut3Unterschiedlicher könnten die Tanzwelten nicht sein, die sich zwischen "Walzerwut" von Eva-Maria Schaller und Wolfgang Mitterer, Damien Jalets "Thrice" und "Thikra: Night of Remembering" von Akram Khan auftun. ImPulsTanz bringt sie in zeitlicher Nähe auf die Bühnen Wiens und macht damit die Vielfalt zeitgenössischen Tanzschaffens unmittelbar erlebbar.

Walzerwut

Es ist wohl kein einfaches Unterfangen für eine Wiener Choreografin, den Blick auf den Walzer zu richten, der seit Jahrhunderten ein Brennglas für gesellschaftliche Zustände ist. Seit dem Wiener Kongress ist er Sinnbild für einen rauschhaften Eskapismus, der eine zuweilen grausame Realität verleugnet. Der Wiener Walzer sorgte in den Pratergründen für Tanzvergnügen, amüsierte in den Salons das Bürgertum und bestärkte es in seiner neu gewonnenen Macht. Der einflussreichste Musikkritiker Eduard Hanslick nannte ihn die „Marseillaise des Herzens“, um die sich romantische Geschichten und moralische Verwerfungen ranken.

Heute leitet „Alles Walzer“ den Society-Event des Jahres, den Wiener Opernball, ein; der Donauwalzer ist zur globalen Neujahrshymne geworden; der Wiener Walzer gehört zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. In der Sportdisziplin Standardtänze ist der Wiener Walzer mit ca. 60 Takten pro Minute der schnellste Tanz des Welttanzprogramms.

Aber auch die Wiener Tanzmoderne beruht auf ihm. Grete Wiesenthal fand einen zeitgemäßen Bewegungsmodus für den Wiener Walzer, der auch im künstlerischen Schaffen anderer Zeitgenoss*innen wie Gertrud Bodenwieser eine zentrale Stellung einnahm. Doch was sagt er Choreografinnen und Tänzer*innen heute?Walzerwut1

Im Gedenkjahr zu Johann Strauss’ (Sohn) 200. Geburtstag nahm sich Eva-Maria Schaller gemeinsam mit dem Komponisten Wolfgang Mitterer erneut dem Phänomen des Wiener Walzers an, nachdem sie bereits 2023 an der Produktion "Glückseligkeit war gestern, oder?" mitgewirkt hatte.

Das Erbe voller Widersprüche ist bereits im Titel "Walzerwut" angelegt: Ist es Wut auf die mit dem Walzer assoziierte bürgerliche Haltung des Verdrängens, auf die kitschverbrämten Artefakte wie in Filmen der Nazi- und der Nachkriegszeit unter dem Motto „Glücklich ist, wer vergisst...?“ Oder spielt "Walzerwut" auf die Tanzbesessenheit an, die sich als Ausdruck gegen Unterdrückung und Unsicherheit nicht nur in krisengebeutelten Zeiten der jüngeren Geschichte manifestiert hat?

Walzerwut4Schaller und Mitterer haben jedenfalls einen ausgewogenen Zugang zwischen kritischer Distanz und lustvollem Eintauchen in das Tanzvergnügen gefunden. Mit überzeugender Ehrlichkeit lotet das Tänzerensemble mit Chiara Aprea, Maartje Pasman, Nimrod Poles, Sasha Portyannikova und Eva-Maria Schaller die Bedeutung des Wiener Walzers für den Gegenwartstanz aus.

Schaller greift eine biografische Facette auf, nämlich Strauss’ Mitgliedschaft im Friedensverein von Bertha von Suttner, und bringt Textpassagen aus deren Buch "Die Waffen nieder!" auf die Bühne, die erstaunliche Relevanz für das heutige Weltgeschehen haben.

Während Mitterer Strauss’ Musik in einer Art Best-of immer wieder klar aufklingen lässt, scheinen Eva-Maria Schaller und ihr beherztes Tänzerteam lange Zeit den verführerischen Klängen widerstehen zu wollen. Statt sich im Dreivierteltakt zu drehen, walzt die Gruppe in einem Knäuel und in Zeitlupe über den Boden. Es folgen kleine Duette – Maartje Pasman und Chiara Aprea erhalten dafür wohlverdienten Zwischenapplaus – und Ensembleszenen.Walzerwut2

Zunehmend entwickelt sich das Material in Richtung des traditionellen Walzers, bis hin zum Paartanz. Doch erst am Ende werden sich die Tänzer*innen der Tanzlust ergeben – ganz ausgelassen und harmonisch, in einer Art Zugabe. Ein runder Abschluss für eine wohl überlegte musikalisch-tänzerische Auseinandersetzung mit einem bestimmenden Kulturerbe.

Thrice

Thrice0Mit einem Dreiteiler für die Compagnie Nagelhus Schia Productions reiste Damien Jalet dieses Jahr nach Wien. Der Belgier, der im Talentepool der Ballets C de la B seine Karriere begann, arbeitete seither für eine Reihe von Compagnien, darunter das Pariser Opernballett, das Scottish Dance Theatre oder das Hessische Staatsballett, wo seine Werke ins Repertoire aufgenommen wurden. Besonders überzeugend war seine Arbeit "Skid", das in Österreich im Festspielhaus St. Pölten mit dem Ballet du Grand Théâtre de Genève zu sehen war (tanz.at berichtete). Außerdem hat er unter anderem für Madonna und für den Oscar-nominierten Musicalfilm "Emilia Pérez" die Tanzeinlagen kreiert.Thrice2

Damien Jalet erweist sich in "Thrice" als routinierter Choreograf und Handwerker mit poetischer Strahlkraft. Die Zahl drei steht nicht nur für das Triptychon, sondern auch für den Cast in den jeweiligen Stücken, der sich jeweils um drei erweitert. Darüber hinaus verweist die Zahl auf die Inspirationsquelle der Produktion: Octavio Paz’ Gedicht "Wind, Wasser, Stein". In "Gusts", "Médusés" und "Brises-lames" übersetzt Jalet es in ästhetische Bilder, unterstützt von einem Stab international renommierter Künstlerinnen für Lichtdesign, Kostüm- und Bühnenbild und verkörpert von den wunderbaren Tänzerinnen der norwegischen Compagnie.

Thrice5Stimmungsvolle Impressionen entstehen im Eröffnungsstück "Gusts", wenn ein Saxophonist den Wind hörbar macht und mit seinem Atem die auf dem Boden liegenden Tänzer*innen zum Leben erweckt; oder in den aus ihrer Erstarrung erwachenden Medusen in eindrucksvollen Fadenkostümen, angetrieben vom Sound der Winter Family; oder in "Brises-lames" (Wellenbrecher), in dem sich die Tänzer*innen am Ende zu einem vielsagenden Schlauchboot formieren – sichtbar in einer Projektion auf dem Bühnenprospekt.Thrice1

Zwischen den drei Teilen wird jeweils eine Schicht des Tanzbodens abgetragen. "Médusés" wird von drei „Bühnenarbeitern“ mit einem slapstickartigen Act eingeleitet, der einen witzigen Kontrast zur erhabenen Schönheit der Stücke bildet.

Thikra: Night of Remembering

Thikr2a3Al-ʿUla, eine Oase in der Wüste Saudi-Arabiens, ist ein Ort, an dem „uralte Rätsel“ verborgen sind, um von Künstlern wie Akram Khan entdeckt zu werden. In einer Auftragsarbeit für das dortige Arts Festival bringt der britische Choreograf in "Thikra: Night of Remembering" ein weibliches Ahnenritual auf die Bühne. Für diese Arbeit sammelte er Stimmen und Geschichten der örtlichen Community, die den künstlerischen Prozess und die ursprüngliche Freiluftaufführung prägten. In der Bühnenversion evoziert das Bühnenbild von Manal AlDowayan und das Lichtdesign von Zeynep Kepekli die Wüstenlandschaft. Aditya Prakash entwickelte mit 25 internationalen Musiker*innen die Soundkulisse weiter.Thikra2

Das Ritual, in dem die Ahnin mit Hilfe eines rituellen Mediums, der Beschwörerin, zu ihrem Stamm zurückkehrt, um mit ihm Erinnerungen an seine Geschichte wieder erlebbar zu machen, wird von einem Ensemble aus 15 Tänzerinnen aus aller Welt umgesetzt. Die ohrenbetäubende Lautstärke, die den Ritus eröffnet, führt direkt in die Dringlichkeit des kommunalen Gedenkens und manifestiert nachdrücklich die Kraft, die in dieser Begegnung mit der Matriarchin gestärkt wird. Die Ensembleszenen peitschen unermüdlich über die Bühne, kleine Gesten der Trauer und des Bedauerns, der Anteilnahme und gegenseitigen Unterstützung leuchten auf, die Frauen verkörpern ein Kollektiv der Stärke und Verletzlichkeit. Unerbittlich befeuert das Oberhaupt und ihre Schwestern diese Nacht des Erinnerns, bis die Ahnin sich wieder zur Ruhe legt. 

Thikr2aKhans Choreografien sind eine Reflexion von Mythen, Überlieferungen und Geschichten, die uns etwas über unsere gegenwärtige Existenz erzählen. Akram Khan gibt darauf keine Antworten. Kein Zweifel, dass es in "Thikra: Night of Remembering" um Leben und Tod geht. Doch auf heute bezogen, wirft diese Auseinandersetzung mit dem Ahnenritual eine brandaktuelle Frage unserer Hightech-Ära auf: Wohin gehen wir, wenn wir die Erinnerung an unsere kollektive Geschichte verlieren? Ebenso bemerkenswert: Für diese Produktion im patriarchal geprägten Saudi-Arabien wählte Khan eine rein weibliche Besetzung und ein matriarchales Thema. Die Haare der Frauen spielen dabei eine tragende Rolle.Thikra

Seit seinem ersten Stück "Rush", das 2001 bei ImPulsTanz zu sehen war, hat sich Akram Khan zu einem Künstler entwickelt, der durch seine Auseinandersetzung mit Grundfragen der menschlichen Existenz zu einem der originellsten und aufregendsten Choreografen der Gegenwart zählt.

Jedes Mal, wenn er einen neuen Karriereschritt ankündigt löst er Neugier und Bedauern zugleich aus, zum Beispiel als er entschied seine Tänzerkarriere zu beenden. Doch seitdem er nicht mehr selbst auf der Bühne steht, wurden seine Choreografien noch stringenter und dringlicher und die von ihm entwickelte Tanzsprache, die auf der indischen Tanztradition des Kathak beruht, gewann an universeller Bedeutung.

Thikra4Nun hat er verkündet, dass 2027 – nach dem Ende der Tournee von "Thikra: Night of Remembering" – seine Company aufgelöst wird. Auf der Homepage der Akram Khan Company schreiben er und sein Produktionsleiter Farooq Chaudhry: „Diese Entscheidung entspringt dem Wunsch, weiter zu wachsen, einen Beitrag zu leisten und auf neue Weise zu inspirieren. Wir sehen dies nicht als einen Moment der Traurigkeit, sondern als eine Feier des Vermächtnisses, das wir aufgebaut haben, und als eine Chance, dass es sich innerhalb der Tanzgemeinschaften, die wir respektieren und lieben, weiterentwickelt und gedeiht.“

Warum Khan diese Entscheidung jetzt getroffen hat, wird nicht näher erläutert. Eines ist jedenfalls klar: "Thikra: Night of Remembering" ist das Werk eines Künstlers auf dem Höhepunkt seiner Kreativität. Vielleicht kann dieser Weg danach nur bergab gehen? Wir werden es nicht wissen – sind aber neugierig, wohin der nächste Schritt diesen einzigartigen Tanzschöpfers führen wird.

Cie. Eva-Maria Schaller & Wolfgang Mitterer: "Walzerwut" am 27. Juli im Odeon; Damien Jalet / Nagelhus Schia Productions am 28. Juli im Volkstheater; Akram Khan Company: "Thikra: Night of Rememberin" am 30. Juli im Burgtheater. Alle im Rahmen von ImPulsTanz.

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