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Devil1Das Bayerische Junior Ballett München begeistert das Publikum im Prinzregententheater mit Marco Goeckes Neukreation „Devil’s Kitchen“. Danach wird Gerhard Bohners „Das Triadische Ballett“ nach Oskar Schlemmer aus dem Repertoire verabschiedet. Ein Abend der Gegensätze, die ungelöst bestehen bleiben.

Tanzen wie auf Droge. Für uneingeweihte Betrachter werden die Grenzen des Menschenmöglichen da oftmals überschritten. Denjenigen Tänzerinnen und Tänzern, die über längere Zeit hinweg intensiv mit dem gebürtigen Wuppertaler Marco Goecke geprobt haben, mag es ebenso gehen. Halbe Sachen winkt dieser Künstler nicht einfach durch. Nur wer total aus sich heraus geht und auf der Bühne alles gibt, vermag in Stücken dieses Choreografen zu bestehen. Das Bayerische Junior Ballett München hat mit „Devil’s Kitchen“ nun einen zweiten brandneuen Hit in seinem Repertoire – nach „All Long Dem Day“, das von Goecke ursprünglich 2015 für die Staatliche Ballettschule Berlin erarbeitet wurde.Devil2

Aber wenn eine Talentschmiede Jubiläum feiert, darf man es ruhig krachen lassen. Dies ist dem BJBM am Ende seines Aufführungsreigens zum 15. Geburtstag mit einem zweiteiligen Tanzabend aufs Beste gelungen. Gleich zum Auftakt wird Goeckes bemerkenswerte Uraufführung kredenzt. Was für ein Gefühl wird den Tanzschöpfer – einst selbst Schüler an der Münchner Ballett-Akademie/Heinz-Bosl-Stiftung, damals noch unter Leitung Konstanze Vernons – bei dieser Heimkehr wohl beschlichen haben? 

Es war Vernon, die das anfangs Bayerisches Staatsballett II benannte Junior-Ensemble 2010 gründete – in kongenialer Fusion mit dem Staatsballett und der an der Hochschule für Musik und Theater München verankerten Ballett-Akademie. 15 Jahre ist das her. Im Hinblick auf die Dauer einer durchschnittlichen Tänzerkarriere bedeutet diese Zeitspanne, dass ein Großteil der aktiven Bühnenlaufbahn bereits hinter einem liegen würde. Gewiss ein guter Augenblick für das BJBM, um sich einen neuen Spielort zu erobern: Neben dem Nationaltheater – traditioneller Austragungsort der zweimal im Jahr stattfindenden Bosl-Matineen – soll künftig einmal jährlich das Prinzregententheater als neue Spielstätte hinzukommen.

Marco Goecke: „Devil’s Kitchen“

Devil3Eine dicke Wolke Theaternebel füllt den Raum, wenn sich der Vorhang zu „Devil’s Kitchen“ öffnet. Leise schleichen sich die sphärischen Popklänge von Pink Floyds „Shine On You Crazy Diamond“ ein. Aus dem Dunkel der Bühnentiefe kommt ein erster Tänzer hervorgerannt. Seine Bewegungen sind explosiv, der Gesichtsausdruck emotional-intensiv. Wenige Wimpernschläge später hat er eine nicht minder körperlich aufgeregte Tänzerin an seiner Seite. Beide interagieren kurz und temperamentvoll – einander frontal mit minimalem Körperabstand zugewandt. Schon stürmt aus der Kulisse ein zweites, anders physisch spannungsgeladenes und gestisch beredtes Paar herbei. Das Nichts der leeren Bühne wird flugs zu einem atmosphärisch hochdramatischen Ort: eben zu „Devil’s Kitchen“.

Marco Goecke kann das: Eine schier unglaubliche Palette an Gefühlen, die sich im Handumdrehen überlagern, in ein sonst inhaltsloses Stück hineinpacken. Vieles wird bewusst überzeichnet und mit in sich verschwimmenden Momenten plus hochtechnischen Attitüden des klassischen Balletts kombiniert. In punkto Rezeption hat das Publikum hier reichlich Gedankenfreiheit. Alles passiert dermaßen schnell, dass man sich auf die ästhetischen Eigenarten, die unheimliche Power und Dynamik des stilistisch wohl markantesten zeitgenössischen Choreografen eigentlich alternativlos einlassen muss.

Um den Chefposten beim Staatsballett Hannover und sich selbst in Teufelsküche hat sich Goecke 2023 mit einer impulsiven Hundekot-Attacke auf eine FAZ-Journalistin gebracht. Im Programmheft zur aktuellen Uraufführung berichtet er: „Als ich von Ivan Liška die Anfrage erhielt, ein Stück zu kreieren, hatte ich davor eineinhalb Jahre nichts mehr choreografiert. Ich befand mich nach dem Skandal in einer völligen Lähmung, saß einfach da und trauerte über den Tod meines Hundes Gustav.“

„Devil’s Kitchen“ wirkt wie ein choreografischer Befreiungsschlag Goeckes – wie eine mit persönlichen Querverweisen gespickte Rolle rückwärts aus dem Stillstand zurück in die Kreativität. Mittendrin hört man einen Hund bellen und aus dem zentral unterlegten Pink-Floyd-Song „Dogs“ bleibt besonders diese Zeile hängen: „And when you lose control, you’ll reap the harvest that you’ve own.“ („Und wenn du die Kontrolle verlierst, wirst du ernten, was du gesät hast.“) Devil4

Dass die Arbeit zudem in enger Zusammenarbeit mit den jungen Tänzerinnen und Tänzern des BJBM entstanden ist, spürt man dessen ungeachtet sofort. Alle kommen „teuflisch gut“ und in ihrer Individualität absolut authentisch über die Rampe – wobei die Vehemenz ihrer schnellen Auf- und Abtritte keine einzige Sekunde abreißt. Es scheint so, dass Goecke seinen unsäglichen Ausraster und die darauf folgende Schaffenskrise nicht nur überwunden, sondern in diesem Zusammenhang produktiv genutzt hat: Der Hundekot ist quasi zu Dünger geworden.

Gerhard Bohners „Triadisches Ballett“ nach Oskar Schlemmer

TriadischesEine Herausforderung ganz anderer Art präsentiert das BJBM danach in Gerhard Bohners Rekonstruktion von Oskar Schlemmers legendärem „Triadischen Ballett“. Als Coup fungieren jetzt – nach so viel pur tänzerischem Drive bei Goecke – vor allem die farbenfrohen, fantasievoll-sperrigen Kostüme. Seit der Neueinstudierung 2014 kamen sie in unzähligen Gastspielen des Ensembles zum Einsatz, wurden immer wieder repariert, gehegt und gepflegt. Nach zahlreichen Verlängerungen des Aufführungsvertrags sind sie nun zum letzten Mal auf der Bühne im Einsatz und schränken die jungen Akteure bewusst in ihrer Bewegungsfreiheit mehr oder weniger stark ein. Triadisches2

Allen Protagonisten wird größte Konzentration abverlangt. Dafür sorgen sowohl die 1977 im Entstehungsjahr von Bohners Choreografie eigens durch Hans-Joachim Hespos hinzukomponierte avantgardistische Klangwelt als auch die vollends durch ihre äußere Erscheinung typologisch in ihrem charakterlichen Kosmos festgeschriebenen Figurinen. Fortan sollen die von Ulrike Dietrich nach den Schlemmer-Originalen rekonstruierten und selbst wiederum schon Kunstwerke darstellenden Kostüme im Gerhard-Bohner-Archiv der Berliner Akademie der Künste verwahrt werden. Und damit leider abseits des aktiven Repertoires. 

Triadisches3Am Ende des Abends bleibt ein Traum unerfüllt: Der an sich nötige Rausschmeißer fehlt, bei dem Schlemmers „steife“ Kostüme noch mit Goeckes motorischer Haltlosigkeit zusammengebracht worden wären. Dafür ist Marco Goeckes choreografische Exzellenz schon bald wieder in München zu erleben: Ab nächster Spielzeit Chef des Basler Balletts probt er bereits mit dem Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ (Premiere am 17. Juli). De facto bestimmt aufputschmittelfrei, ästhetisch hoffentlich nicht.

Bayerisches Junior Ballett München: „Devil’s Kitchen“ und „Das Triadische Ballett“ am 11. Juni 2025 im Prinzregententheater München