In „Bonachela/Lake/Montero“ – seinem letzten Dreiteiler auf der Bühne des Nürnberger Opernhauses vor dem Amtswechsel nach Hannover – bringt Goyo Montero noch einmal gebündelt zum Ausdruck, was die 17 Jahre Tanzdirektion unter seiner künstlerischen Leitung geprägt hat: ästhetische Überwältigung, schlüssige Verlinkung unterschiedlicher choreografischer Handschriften und thematischer Herangehensweisen sowie getanzte Leiden- und Meisterschaft einer umwerfenden Kompanie mit immenser Wandlungsfähigkeit und exorbitanter Ensemblepower.
Stück für Stück Jubel. Am Ende des neuen Triple Bill „Bonachela/Lake/Montero“ tobt der Saal. Standing Ovations. Zwei bahnbrechende Vertreter der australischen Tanz-Szene sind erstmals im Nürnberger Opernhaus mit eigenen Arbeiten zu Gast.
Zwischen Licht und Finsternis: „Lux Tenebris“ von Rafael Bonachela
Den Anfang macht mit „Lux Tenebris“ der gebürtige Spanier Rafael Bonachela – seit 2009 Künstlerischer Leiter der Sydney Dance Company. Visueller Clou dieses höchst dynamischen, temporeichen Werks ist das 35-minütige, unvorhersehbare Wechselspiel zwischen Finsternis und Licht. Auf vornehmlich schummriger Bühne wird das Aufleuchten mal heller, mal gedimmter Lichtquellen zu einer Art Stimmungsbarometer und Antrieb für 22 Tänzerinnen und Tänzer. So lange diese im Schatten verweilen, lässt sich ihre Präsenz nur erahnen. Doch jedes Mal, wenn irgendwo für Augenblicke der Schein von Lampen die Dunkelheit durchbricht, wird ein lebhaftes Wuseln sichtbar – und ihr quirliges Interagieren in sich rasant verändernden Konstellationen.
Am Boden zeichnen sich Rechtecke, Kreise oder Korridore ab – temporäre Räume des Lichts inmitten von Schwärze. Dorthinein hechten und katapultieren sich physisch beredte Körper, die bald darauf wieder im Dunkel verschwinden. Eine tolle Wirkung erzeugen von der Decke hängende Glühbirnen, die hier an, dort ausgehen. Da fliegen springende Protagonisten direkt aufeinander zu und Begegnungen entwickeln eine ungewöhnliche Energetik. Regie führt quasi die von Benjamin Cisterne designte Beleuchtung. Diese bleibt fast durchgehend spärlich. Dennoch muss der Zuschauer ihr folgen; sie lenkt seinen Blick und bestimmt das Tanzgeschehen. Interpreten tauchen prompt aus dem schwarzen Nichts auf, hinterlassen starke Eindrücke und ziehen sich wieder in den Schutz der Unsichtbarkeit zurück. Vieles passiert regelrecht überstürzt. Aufgrund der begrenzten Lux-Zahl ist der Ausdruck in den Gesichtern oft schwer wahrnehmbar. In hyperschnellen Übergängen und permanenten Umgruppierungen oder vereinzelten längeren Soli werden Situationen vor allem sehr körperlich ausgelotet.
Eine Passage gibt es in Bonachelas Choreografie – zu Musik des zeitgenössischen australischen Komponisten Nick Wales und ursprünglich für Sydney produziert –, die lässt sich in Worten kaum beschreiben. Dabei muss man gleichzeitig an Rock'n'Roll tanzende Paare und Ballett ganz im Verständnis eines William Forsythe denken. Über eine weite Strecke schimmert da für Monteros sich bewegungstechnisch stets bestens behauptende Truppe viel Unbeschwertheit innerhalb eines sich instinktiv aus der Finsternis schälenden Narrativs durch. In dieser verquer-stimmigen Kombination unterscheidet sich die Unbekümmertheit von Bonachelas „Lux Tenebris“ von Monteros Arbeiten – trotz punktuell durchaus vergleichbaren Ideen.
Im Rhythmus des Alltags: „Artefact“ von Stephanie Lake
Zum Schluss des Abends sorgt die ebenso gruppen- wie strukturstarke Uraufführung „Artefact“ von Stephanie Lake (nicht zu verwechseln mit Forsythes „Artifact“ aus dem Jahr 1984) für einen Rausschmeißer der Extraklasse. Die Choreografin und Leiterin einer eigenen, in Melbourne beheimateten Kompanie wurde in Saskatoon (Kanada) geboren und wuchs in Launceston (Tasmanien) auf. Seit 2024 ist Lake Hauschoreografin des Australian Ballet. Dass man bald noch mehr von ihr in Deutschland hören und sehen wird, ist dem Dresdner Ballettchef Kinsun Chan zu verdanken. Er hat Stephanie Lake für die Spielzeit 2025/26 als Artist in Residence ans Semperoper Ballett geholt. Gut so. Die Begeisterung der Nürnberger für Lakes lichtes Stück, das sich bis hin zu einem heiter inszenierten Bild von Großstadthektik kontinuierlich intensiviert, konnte der schweizerisch-kanadische Choreograf und Designer, der am Premierenabend anwesend war, schon mal vorab als positives Omen für seine Entscheidung werten. Obwohl ihm Goyo Montero am 26. April 2025 mit Lakes „erster Kreation in Europa“ zuvorgekommen ist.
„Artefact“ hat das Unscheinbare und Alltägliche zum Thema: Beziehungen, Zustände von Euphorie, Missmut oder Schmerz. Lake lässt tänzerisch das Leben pulsieren und die 23 allesamt in warme, hellbraune Farben gekleideten Mitwirkenden ins Stocken geraten. Nichts bleibt lange wie es ist. Bild für Bild ordnet sich alles neu. Facette für Facette fügt sich langsam aus flüchtigen Impulsen, markanten Posen und akrobatischen Einsprengseln das Kaleidoskop einer Gemeinschaft aus vielen unterschiedlichen Individuen zusammen, die zwar Ermüdung, aber keinen Stillstand kennen. Bewegung bedeutet Veränderung.
Lakes Choreografie beginnt mit gewöhnlichen Schritten und kleinen Gesten. Auf der Bühne fusionieren sie zu faszinierenden Formen, die Schönheit entfalten. Der Vorhang hebt sich. Stille. Parallel zur Rampe zieht sich ein Lichtstreifen quer über die Bühne. Ordentlich hintereinander aufgereiht marschiert das Ensemble ein. Eine Tänzerin bleibt stehen. Lautes Atmen ist zu hören. Die Tänzerin reiht sich wieder ein. Alle bis auf einen Tänzer gehen nach rechts in die Kulisse ab. Kurz darauf taucht die Reihe hinten links wieder auf. In Diagonalen, dann Kreisen setzt sie ihren Weg fort. Das hat Witz. Die Schritte werden strammer, ausgeatmete „hahaha“-Rufe lauter. Einzelne Akteure brechen aus der linearen Formation aus.
Wie Rafael Bonachela und Goyo Montero hat auch Stephanie Lake mit dem Australier Robin Fox einen ihr künstlerisch seit Langem eng verbundenen zeitgenössischen Komponisten mit Musik eigens für den neuen Halbstünder beauftragt. Das Einsetzen von Trommelklängen motiviert ein Paar zu einem Duett. Fix bilden die restlichen Tänzerinnen und Tänzer um sie herum einen Rahmen. Doch der bekommt bald Lücken. Nach und nach drängen sich alle in der Mitte. Man redet aufeinander ein, versprengt sich im Raum und sortiert sich im Halbkreis neu. Mal bündelt eine große Gruppe mit ausgreifenden Armschwüngen die gesamte Energie. Dann wieder verteilt sich diese auf sich scheinbar zufällig in die Arme fallende Paare und ungewöhnliche Duette.
Später kommen schwarze Boxen ins Spiel. Im Hintergrund gestapelt erinnern sie an eine Stadtsilhouette voller Hochhäuser in weiter Ferne. Vorne im Rampenlicht – platziert in zwei Reihen – werden Hocker in Würfelform und dazwischen eine Straße daraus. Die Protagonisten setzen sich, beugen sich vor, sacken gelangweilt in sich zusammen, wippen dramatisch, legen den Kopf zurück und strecken ihre Zungen heraus. Zwei stellen sich auf ihre Boxen. Zwei gehen spazieren. Alle tasten mit den Händen ihre Gesichter ab. Gerundete Arme schnellen hoch. Ein Bumpern erklingt. Die Kuben werden verstaut, der Raum nach hinten geöffnet. Vier in ihrer Bewegungsqualität unterschiedliche Gruppen flirren über die Bühne. Immer schnellere Beats treiben die Choreografie an. Die Lichtstimmung wechselt zu Rot. Ein Teil des Ensembles prescht bis auf den überbauten Orchestergraben vor. Noch eine geschwinde Drehung um die eigene Achse, dann bricht „Artefact“ jäh ab.
Leben in emotionaler Schräglage: „Tilt“ von Goyo Montero
Zwischen den beiden Gastbeiträgen präsentiert Goyo Montero die eigens für „sein“ Staatstheater Nürnberg Ballett überarbeitete Neufassung von „Tilt“. Die damit als letzte ins Repertoire eingebrachte eigene Arbeit des spanischen Tanzmagiers war bereits 2023 für das Staatsballett Hannover entstanden – ab nächster Spielzeit Monteros neue Wirkungsstätte als Tanzspartenleiter der Niedersächsischen Staatstheater.
Einfluss auf die Themenfindung hatte der Poker-Thriller „The Card Counter“, den Montero – so ist im Programmheft zu lesen – zufällig gesehen hat. Der Pokersprache entstammt auch sein Titel: „Tilt“ beschreibt den Zustand des Kontrollverlusts von Spielern und damit die Fragilität eines womöglich lebensentscheidenden Grenzmoments. Genau an diesem heiklen Kipp-Punkt setzt Montero an – treu seinem stets profund-eigenwilligen künstlerischen Zugriff ganz tiefenemotional scharf abstrahierend.
Und so ist auf der Bühne im Nürnberger Opernhaus einmal mehr ein Kraftwerk an inhaltlichen Visionen, narrativer Emotionalität, hintergründig andersartigen Sichtweisen auf bekannte Vorlagen, choreografisch eine Menge an Assoziationen freisetzenden Einfällen und dynamischen Bewegungsevolutionen von Soloparts über Duette bis hin zu fantastisch fließend ausgearbeiteten Gruppenformationen zu erleben: expressiv, aufwühlend, berührend schön und in der Verquickung mit zwei mobilen, den Raumeindruck gewaltig verändernden Spiegelwänden theatralisch unheimlich effektvoll. Durch den Einsatz der liegenden rechteckigen Spiegelflächen (Bühne: Leticia Gañán & Curt Allen Wilmer) als quasi sichtbarmachendes Symbol für die im Kopf der Interpreten – beziehungsweise eines Interpreten – stattfindenden psychischen Veränderungen bringt Montero auf ziemlich einfache Weise eine weitere wichtige Ebene ein.
Phasen, Entwicklungen und Zuspitzungen innerer Bewegtheit werden tänzerisch virtuos, teils furios und zugleich durchsetzt von schlichten Elementen erzählt. Wiederholt lässt Montero seine insgesamt 15 Protagonisten entweder allein oder gemeinschaftlich durch die Luft segeln. Gruppen splitten sich in Untergruppen auf. Mittig die Bühne halbierend zerfällt eine lange Menschenreihe in Paare. Eine Sequenz lang werden rückwärts Kreislinien gerannt. Als sich der schwarze Hänger im Hintergrund zu heben und das Sich-Spiegeln beginnt, „ver-rückt“ sich auch der Fokus. Die Tänzer drehen dem Publikum ihre Rücken zu. In die Klangkreation des kanadischen Komponisten Owen Belton schleicht sich ein Geflüster. Und der Tänzerin im vorn hochgeschlitzten Ballkleid (Kostüme: Margaux Manns) haftet irgendwie etwas Dämonisches an. Aus dem Dunkel heraus tritt sie an einen der beiden Männer heran, die eben noch Seite an Seite parallel nebeneinander getanzt haben – jeder allerdings zugleich für sich im Dialog mit dem respektive auf Konfrontationskurs zum eigenen Spiegelbild.
Der Spalt zwischen den Spiegeln wird zum schmalen Durchschlupf für blitzartig auf- und abtretenden Akteure. Darunter sind zwei, die an Stäben befestigte weiße Klebebandrollen zum Abmarkieren des Bodens vor sich herschieben, während sie die sich zur „V“-Form zusammengeschobenen Wände entlangschreiten. „Tilt“ ist Tanz pur, fantastisch inszeniert und für die Protagonisten technisch, aber auch darstellerisch herausfordernd. In jeder vermeintlich noch so kleinen motorischen Nebensächlichkeit schwingt etwas an inhaltlicher Bedeutsamkeit mit. Typisch für Montero, der unabhängig davon, worum es thematisch in einem seiner Stücke geht, poetisch scharfsinnig aus dem Vollen schöpft.
Monteros letzte Spielzeit ist längst noch nicht zu Ende. Auf die eigentliche Abschiedsproduktion „Malditos Benditos“ Ende Juni folgt Anfang Juli im Schauspielhaus noch „Made for us IV“. In der 2014 begründeten Reihe kreieren Tanzschaffende der jüngeren Generation Uraufführungen für das Nürnberger Ensemble – diesmal die Italienerin Vittoria Girelli, der Kanadier Ethan Colangelo und eine Preisträgerin bzw. ein Preisträger des Internationalen Wettbewerbs für Choreografie Hannover.
Dennoch mischt sich in die Begeisterung der Zuschauer für den geglückten Dreiteiler zunehmend Wehmut. Zu Recht. Warum sollte Montero den Nürnbergern seinen Abschied auch leichtmachen? 25 unvergleichliche Tanzproduktionen und zuletzt noch mit Mozarts „Zauberflöte“ seine erste Opernregie hat er seit 2008 allein in der Frankenmetropole herausgebracht – kein einziges der zum Teil experimentierfreudigen Projekte war eine Niete. Über die Jahre ist unter seiner Leitung ein phänomenal diverses Ensemble zusammengewachsen, von dem sich sehr schnell sogar namhafte Choreografen als Gäste für Kreationen haben inspirieren lassen. Ein Erfolg jagte den nächsten – ganz gleich ob auf dem Programm Handlungsballette, gemischte Abende oder Uraufführungen von Choreografen der Next Generation standen. Anstatt den Ausbau der Tanzsparte voranzutreiben – wie Montero als Chefchoreograf und bestens vernetzter Kurator sein Ensemble samt zukunftsweisender Perspektiven (Stichwort Junior-Kompanie) –, hielten Staatsintendanz wie kulturpolitische Entscheidungsträger lieber am Beibehalten kleinerer Lösungen fest, was irgendwann unvermeidbar auf einen Leitungswechsel zusteuern musste. Am 8. Mai wird Goyo Montero am Staatstheater Hannover das Programm für seine erste Spielzeit vorstellen. Welche Pläne sein Nachfolger Richard Siegal für Nürnberg hat, wird am 19. Mai bekanntgeben. Der Abend „Bonachela/Lake/Montero“ hat jedenfalls auf ganzer Linie überzeugt.
Staatstheater Nürnberg Ballett: „Bonachela/Lake/Montero“, Premiere am 26. April im Staatstheater Nürnberg. Weitere Vorstellungen am 11., 16., 19., 21., 24., 30. Mai; 8., 10., 14. Juni