„Ich erhebe meine Stimme.“ Jan Martens' Tanzstück „VOICE NOISE“ dient diesem Motto im Festspielhauses St. Pölten bestmöglich. Sechs TänzerInnen performen 13 Songs, geschrieben, komponiert respektive gesungen von durch die Musikgeschichte ignorierten Frauen. Gut eineinhalb Stunden lang treffen sich hochklassiger Tanz und Musik aus vielen Jahrzehnten weltweiter Kulturgeschichte in dieser Österreich-Premiere.
Eine der inspiratorischen Quellen für „VOICE NOISE“ war der Essay „The Gender of Sound“ von Anne Carson aus dem Jahre 1996, in dem sie anhand altgriechischer Legenden und Überlieferungen die Stimmen von Frauen als Zeichensprache, die deren innere Fakten herausstellten, charakterisierte. Zudem, und sehr naheliegend, stehen Frauen als größte diskriminierte Gruppe für weitere, zahlenmäßig kleinere. Dass in dieser Arbeit auch Männer tanzen, sprechen und singen, stellt queere Menschen den Frauen diesbezüglich gleich.
Sechs Mikrofone, eine fast leere Bühne, nur ein flaches großes Podest in der Mitte. Zwei Männer- und vier Frauen-Stimmen malen Laute im Crescendo. Sie erheben ihre Stimme, noch bevor sie ihre Körper sprechen lassen. Elisha Mercelina, Steven Michel, Courtney May Robertson, Pierre Adrien Touret, Loeka Willems und Sue-Yeon Youn, die auch an der Erarbeitung dieser Arbeit beteiligt waren, stellen jeweils die Musikstücke vor, zu denen sie danach tanzen werden.
Für den wohl auffälligsten Botschafter des flämischen Tanzes Jan Martens ist Musik dialogischer Partner des Tanzes. Sie unterstützt und stärkt den individuellen und kollektiven Ausdruck der TänzerInnen. Zudem, und in diesem Stück besonders gut zu beobachten, ist die Musik für ihn ein zeitlich und räumlich strukturierendes, dem Tanz ein inhaltlich-expressives Gerüst gebendes Element.
Die sechs TänzerInnen agieren die rhythmischen und dynamischen Eigenheiten der verwendeten Songs sowie deren textliche Aussage mit viel Einfühlung und teils auch konterkarierend aus. Es ist ein Genuss, sich von jedem Einzelnen bei seinen/ihren Soli, während die Anderen vom Rand her zusehen, mitnehmen zu lassen in die Musik. Es scheint, als sei der Tanz Verstärker und Sensibilisierer für die Wahrnehmung dieser so selten gespielten und gehörten Musikstücke und ihrer Schöpferinnen und Interpretinnen.
Und was wir zu hören bekommen, ist eine Ohrenweide. Die Bandbreite der musikalischen Beiträge reicht von der verrauschten, kratzigen Aufnahme eines sehr alter (Folk-?) Songs über Lieder aus uns fremden Kulturkreisen Asiens und Afrikas, Blues und Soul und der Popkultur nahe Stehendes bis zum mit der gewohnten Liedstruktur brechenden, a capella performten Vokalstück, lebendig und abwechslungsreich inszeniert. Die (nie aktionslose) Stille wird zu einem wirkungsvollen Kleber für die musikalisch-tänzerischen Sequenzen und zu einem die Spannung verstärkenden dramaturgischen Instrument.
Die Choreografie macht die Musik sichtbar, den Tanz hörbar und den Text fühlbar. Sie verschmilzt Gehörtes und Gesehenes zu einem Bild des Widerstandes gegen die Auslöschung, die sie als spürbare Bedrohung in die Szene gießt. Der dynamische, tänzerisch-performative Diskurs zwischen Individuum und Kollektiv erzählt auch von deren Erfahrungs-Ebenen und Bewältigungs-Strategien. Martens erlaubt es dem Publikum nicht, sich's ungesehen gemütlich zu machen.
Licht aufs Auditorium durchbricht die Grenze zur Bühne und somit zum Thema. Der auf der Bühne getanzte Schmerz, die in der Nacht besonders quälende Einsamkeit oder die in der Gemeinschaft gefundene Kraft rücken einem sehr nah. Sechs über dem Podest schwebende Lautsprecher repräsentieren die Stimmen der sechs TänzerInnen, stellvertretend für die ungezählten „übersehenen“ (und das mag angesichts des künstlerischen und kulturellen Wertes der ausgewählten Musikstücke eine die patriarchalen Urgründe für ihre Verdrängung an die Ränder der jeweiligen Herkunfts-Kultur beschönigende Formulierung sein) Frauen-Stimmen.
Es ist nicht nur mangelnde Aufgeschlossenheit gegenüber noch Unerhörtem, die diesen und vielen anderen Frauen ihr Dasein außerhalb der Wahrnehmung durch die breite Masse bescherte und beschert. Politische, ökonomische und kulturelle Machtstrukturen erlauben es Männern seit Hunderten von Jahren, ihre Macht gegen Einflüsse von sie in Frage stellenden Kräften abzuschirmen. Auch heute noch sitzt das Patriarchat sehr fest in seinem durchgerittenen Sattel. Die sechs singen „Bella Ciao“, das italienische Partisanenlied.
Die einzigartige physische Artikulationskraft der TänzerInnen und deren ausgeprägte Individualität machen ebenso wie ihre Leichtigkeit in den synchron getanzten Gruppenszenen das Stück zu einem ganz besonderen Tanz-Erlebnis. Die politische Botschaft von „VOICE NOISE“ geht über die Anklage der Diskriminierung von Frauen in Kunst und Kultur weit hinaus. Patriarchale Herrschaftsstrukturen prägen praktisch den gesamten Planeten, und das seit Jahrtausenden. Wie dieses Stück zeigt: Jeder Kontinent, jede Religionsgemeinschaft, fast jede, wie weit auch immer entwickelte Nation sind betroffen.
Die Wirkungen auf die Diskriminierten sind, weil sie Teil der Gesellschaften sind, Wirkungen auf die Gesamtheit dieser Gesellschaften. Deren Destruktion und die Auflehnung dagegen werden zu Songs und Tänzen. Für die sechs hier ist ihr Tanz ihre Waffe. Sie tanzen am Ende in der Stille weiter, tanzen ihr feministisches Manifest für die Gleichheit und das Miteinander aller schier endlos fort.
Jan Martens mit „VOICE NOISE“ am 26.04.2025 im Festspielhaus St. Pölten.