Pin It

Medea3Was ist Freiheit? Sind Sie frei? Warum wird man böse? Mit diesen Fragen formuliert der Gefängnisdirektor Kreon das Subjekt der Untersuchung, in die sich Autor und Regisseur Ernst Kurt Weigel mit seinem neuesten Mash-up, inspiriert von "Natural Born Killers", 1994 von Oliver Stone und Quentin Tarantino ins Kino gebracht, und von Franz Grillparzers "Medea", dem drittem Teil seiner 1821 uraufgeführten Trilogie "Das Goldene Vlies", vertieft.

Kurz die Story: Mae, eine von ihrem Vater psychisch und physisch unterdrückte und missbrauchte junge Frau, lernt den von seinen Eltern früh verlassenen Lieferando-Lieferanten Jay in ihrem Elternhaus kennen. Sie verlieben sich standrechtlich ineinander und beschließen zu fliehen. Sie töten Mae's Eltern, heiraten blutig. Die Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden, lassen sie, dürstend danach, diese zu rächen, mordend durch Österreich ziehen. Die Steiermark und das Burgenland, die auch "dialektisch" als Orte ihrer Verbrechen hörbar gemacht werden, sind nur Stationen auf ihrem Weg ins Gefängnis, in dem sie letztlich, getrennt voneinander, landen. Sie dokumentieren ihr Leben und ihr Töten in den sozialen Medien. Jay verrät ihre Liebe für einen sozialen Aufstieg. Seine Jugendliebe Kreusa nimmt ihn auf und stachelt ihn an, Mae zu verlassen und die Kinder zu sich zu nehmen. Doch Mae tötet die gemeinsamen Kinder.

Mit Gold durchsetzt ist das Schaffell, das Goldene Vlies, das jeden, der es besitzt, zum Herrscher macht. Die Gier danach ist ein weiterer der vielen ineinander verwobenen Handlungsstränge. Das Vlies tötet die Gierigen, zuletzt verbrennt es Kreusa.

Die Bühne ist bereits belebt. DarstellerInnen nehmen Selfies mit Einigen aus dem Publikum, das sich um die Bühne platziert. Womit die sozialen Medien als Ko-Performer und wir, die ZuschauerInnen, als unentrinnbar Involvierte eingeführt sind. Mae lehnt lasziv an einer Säule, ein Hase hüpft herum. Wir sitzen im Wohnzimmer der Familie. Die Distanzlosigkeit des Setups, die das ganze Stück über aufrecht erhalten wird, zieht einen zunehmend hinein in die Geschichte, lässt ein "Geht mich nichts an" nicht zu. Die Frage, woher Gewalt kommt, wie sie entsteht, wird mit einem praxisnahen Supermarktkassen-Gedanken-Experiment beantwortet. Jetzt noch recht oberflächlich.

Die Szenerien wechseln häufig. Die Wohnung der Familie des Gefängnisdirektors Kreon, seiner Frau Gora und deren Tochter Kreusa, eine verlogene, schein-heile Welt unter der Herrschaft eines zynischen Despoten, und der "Palast", wie Jay ihn nennt, von Mae's Familie mit einem furzenden Macho als Vater, der seine Tochter missbraucht, einer eingeschüchterten Mutter und einem verstummten, von einer Puppe repräsentierten Bruder. Eine Tankstelle wird zum Tatort. Der Tankwart erkennt die gesuchte Mörderin, er repräsentiert als älterer Mann Maes Vater und wird von ihr getötet. Eine burgenländische Schamanin beschwört Schlangen. Die Gesellschaft als Schlangengrube, als Gemeinschaft anonymer, gesichtsloser, von mystischen Kräften gesteuerter Individuen. Sie töten wahllos. Niemand überlebt. Und schließlich das Gefängnis.

Kajetan Dick gibt in einem Intermezzo den Tankwart. Vor allem ist er der Gefängnisdirektor mit dem königlichen Namen Kreon, der seinem Despotismus und Sadismus ein Gutmenschen-Mäntelchen umhängt. Beißend sein Zynismus, der des mit Macht versehenen Individuums, der der Mächtigen im Großen, der der Macht im Allgemeinen.

Jula Zangger glänzt in ihren drei Rollen der Gora, der georgischen Frau des Gefängnisdirektors, der Schamanin und der Mutter Mae's, die nach ihrem Tod wie ein Zombie mit nach oben gedrehten Augen, man sieht tatsächlich nur das Weiße, über die Bühne und durch die Seele Mae's geistert. Medea1

Der Hase ist wie ein Dämon, der ständige Begleiter Jays, sein Schatten, sein Rucksack, sein tief in ihm wütender Hass, seine Gewalttätigkeit. Yvonne Brandstetter fühlt sich sichtlich wohl in dieser Rolle. Sie ist in ihrem Element, mit kraftvoller Mimik und vollem Körpereinsatz.

Anja Štruc kurz als Geisel (sie löst sich für einen Moment von der Säule und heißt Jay mit wundervoller Singstimme willkommen: "Jetzt bist du zu Hause!"). Als Seelsorgerin Kreusa und Tochter des Gefängnisdirektors Kreon schiebt sie einen leeren Kinderwagen mit sich herum. Wie ein dem Leben abgeschauter ironischer Verweis auf die Antriebe von „Psycho-Tanten“, wie Mae sie nennt, (die hier, in „N.B.M.“ nicht erscheinenden „-Onkel“ seien gleichermaßen gemeint) für ihre Berufswahl.

Matthias Böhm darf sich die Rolle des machtbesessenen, Gewalt liebenden Kommissars Scagnetti aussuchen. Als Vater Mae's spielt er den proletoiden, die Familie tyrannisierenden und seine Tochter missbrauchenden Macho mit beklemmender Authentizität.

Aus den von Leonie Wahl choreografierten getanzten Intermezzi sticht eine Szene heraus, in der Mae sich allmählich mit dem allgegenwärtigen Geist ihrer Mutter synchronisiert. Weil sie sich den in ihr wirkenden psychischen Instanzen nicht entziehen kann. Bernhard Fleischmann unterstützt mit seiner Musikauswahl, er setzt diverse Popsongs treffend an die richtige Stelle, und mit seinem Sound Stimmungen und konzeptionelle Intentionen.

Mae/Medea und Jay/Jason werden auf ihrer Odyssey durchs Land, durchs Leben immer wieder mit ihren Verletzungen konfrontiert, die sie wütend, aggressiv, dann gewalttätig werden lassen. Sie sehen im Außen überall Spiegelungen dessen, was sie innerlich fortwährend sabotiert. Sie versuchen dort draußen ihre inneren Dämonen zu töten. Sie rächen das, was ihnen angetan wurde: Die Zerstörung ihrer selbst, die Tötung ihrer Seele. Rache aber greift zu kurz. Sie können nicht anders, weil sie die Welt als eine zerstörerische kennengelernt haben. So ist sie. Also leben sie das, was ist: Tod und Zerstörung.

Medea2Von den sieben DarstellerInnen rekrutierte Ernst Kurt Weigel vier neu für sein Bernhard-Ensemble (auch das Team hinter der Bühne ist weitgehend neu). Die sieben überzeugen mit ihren schauspielerischen Leistungen, vom Regisseur in eine geschlossenen Ensemble-Leistung geführt. Habituelle Glaubwürdigkeit liefern alle. Die beiden zentralen Figuren Jay/Jason (Andrzej Jaslikowski) und Mae/Medea (Rinan Juniku) stechen, ihre Rollen fordern es, noch einmal heraus. Rina Juniku jedoch überragt alle und alles. Ihre Wandelbarkeit, emotionale Authentizität und Intensität überwältigen. Sie treibt einem in der finalen Kindsmord-Szene das Wasser in die Augen. Großartig!

Ernst Kurt Weigel seziert, mit Humor und witzigen Details garniert, die Seelen seiner Protagonisten. Er schaut hinter Masken mannigfaltiger Couleur, bohrt sich durch Rationalisierungen als Argumentation von verdeckten oder unbewussten Intentionen, entlarvt das Patriarchale als das wesentliche destruktive Moment (und ehrt mithin den Feminismus) und er erkennt die individuelle psychische Konditionierung als die Ursache von Gewalt wie auch, ganz nebenbei, als Türöffner für jegliche Radikalisierung. Im Gegensatz zu so vielen anderen, die sich an den Oberflächen von kulturellen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Gründen dafür abarbeiten und damit an peripheren Gestaden stranden.

Ernst Kurt Weigel verschiebt das Identifikations-Potential vom Stone'schen Medienruhm in die Psyche der Protagonisten. Die mit der Rezeption dieses Stückes erzwungene Innenschau erlaubt den sich selbst gegenüber rückhaltlos Ehrlichen die Entdeckung von Ursachen eigener Aggressionen und die Erkennung von individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen zwar systembedingter, aber im kleinsten, engsten, elementarsten, allermeist familiären Kreis erzeugter seelischer Deformationen. Die Brutalität des Stückes ist die unserer psychischen Wirklichkeit. Weigel weist auf die Notwendigkeit zu handeln, auf die Notwendigkeit, diese Jahrtausende wirkende Erbfolge psychischer und physischer Gewalt zu durchbrechen. Beginnen müssen wir mit uns, jeder mit sich.

Nachsatz: Dass Herr Nestroy irgendwann auch noch erwähnt wird, mag einem Selbstbild entspringen, das dem Fremdbild kundiger Beobachter zur Prüfung anempfohlen sei.

NATURAL.BORN.MEDEA von Ernst Kurt Weigel am 07.11.2023 im OFF THEATER Wien. Weitere Vorstellungen: Jeden Dienstag, Freitag und Samstag bis 09.12.2023.

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.