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SAndmann4479Beate Vollack eröffnete ihre erste Saison als Ballettchefin im Grazer Opernhaus nicht zufällig mit diesem, der Schwarzen Romantik verpflichteten Kunstmärchen nach E.T.A. Hoffmann: Hatte sie doch nicht nur vor vielen Jahren selbst die Coppélia im Ballett von Leo Délibes getanzt, sondern es beschäftigte sie schon lang davor und bis heute neben der Faszination für das zentrale Thema vor allem eine Frage:

Warum es bislang „nur“ zu dieser und nicht auch zu einer weniger „leichten“ Ballettversion des Inhalts gekommen war. Den Wunsch nach einer in diesem Sinne anderen künstlerischen Umsetzung teilte sie mit dem Choreographen Andreas Heise – und nunmehr war die Möglichkeit zur gemeinsamen Realisierung als Uraufführung in Graz gegeben; ergänzt durch „die  luxuriöse Situation“ (Heise im Programmheft), dass der Komponist Benjamin Rimmer, mit dem er schon einmal zusammengearbeitet hatte,  im Auftrag der Oper Graz nun für seine Choreographie die Musik schrieb. Und schließlich fügte sich auch noch der für diese Produktion (vor-) gegebene Raum der Studiobühne –  fenster- und schmucklos nüchtern weckt er bestenfalls klaustrophobische Gefühle – in den Kreis der stimmigen Voraussetzungen.Sandmann4824

Angespannt und hoch die Erwartungen in den vollbesetzten Zuschauerreihen – kaum enden wollend der Schlussapplaus. Einer, der vorbehaltslos berechtigt war. Er galt einem gleichermaßen unbemerkbaren wie markanten Bühnenbild, bestehend aus einem kargen Tisch, einem Bett (das vielleicht etwas weniger, also nicht nur an das eines Spitals hätte erinnern müssen) und einer riesigen, auch funktionellen „Beton“-Wand im Hintergrund, deren hochstufige Treppe metaphorisch ins schwierig zu erklimmende „Hinaus“ aus der gegebenen Enge (des Protagonisten) führt; und galt den hautfarben-diskreten, doch ästhetisch ansprechenden Kostümen (Sascha Thomsen) – schließlich (er-)strahlen weder Clara noch Nathanael in bunt-lebensfroher Vielfalt.

Sandmann9600Der Applaus galt weiters einem punktgenauen Lichtdesign (Johannes Schadl), das einerseits wunderbar scharfe Konturen zeichnete so wie es anderseits Grenzen zwischen Realem und Geträumten ineinanderfließen ließ.

Und der Applaus sollte zweifellos auch und nachdrücklich dem jungen Komponisten Benjamin Rimmer gelten, der der Produktion die atmosphärische Basis, den tonalen Überbau und ein, das darstellerische Potential erweiterndes,  feinstimmiges Netz aus Gedanken und Gefühlen zu weben verstand; gleichermaßen melodisch tragend, träumerisch-romantisch wie durch Geräuschkulissen und harte, ungewohnte Tonfolgen aufrüttelnd,  befremdend, ja beängstigend.Sandmann5003

Von Wichtigkeit für die nächsten Jahre: Dass der Applaus für weitgehend jeden im neu formierten Ballett des Grazer Opernhauses gelten konnte wie auch für das bereits gut funktionierende Zusammenspiel. Da überzeugte manch bilder- und assoziationsreiche, gut  koordinierte  Gruppenformationen, kreiert mithilfe des Corps de ballet: etwa als vielfältig bedrohliche Figuren in Nathanaels Alpträumen; oder in der Traumszene der in sechsfacher Verkörperung auftretenden Clara, die Heise in Ballettschuhen wunderbar unnatürlich überhöht trippeln und agieren lässt: unerreichbar kühl und von zielstrebiger, nahezu perfekter  Disziplinierung  durchdrungen. Was an weiblichen „Idealen“ und damit in der Liste erträumter weiblicher „Fähigkeiten“ hier allerdings leider fehlt, ist die Facette der Anziehung, der Faszination.

Sandmann9735Herausragend die Pas de Trois der Männer: Vater/Arthur Haas, Sandmann/Paulio Sovari und Nathanael/ Enrique Sáez Martínez oder mit Bruder Lothar/Frederico Alves de Oliveira; allesamt ausnahmslos dynamisch in akrobatisch tänzerischem Fluss. Mitreißend unheimlich ein gestisch untermaltes, besonders effektvoll-theatrales Solo von Paulio Sovari. Von außergewöhnlicher, feinsinniger choreographischer und getanzter Emotionalität der Pas de Trois von Lothar, Clara/ Lucie Horná und Nathanael.

Und schließlich sind es die beiden Protagonisten selbst, Nathanael und Clara, die den Abend zu einem der Tanz-Höhepunkte der letzten Jahre in diesem Haus machen: Ihre Stärke wurzelt in der greifbaren emotionalen Konzentration ihrer mit zielstrebiger Kraft und beachtlichem Können geführten Bewegungen, ihres darstellerischen Ausdrucks bis in die Fingerspitzen. Derart berühren und überzeugen diese beiden jungen Künstler in all den von ihnen präsentierten Tanz-Facetten der Zuneigung und Liebe, der Entfremdung und der Abneigung, der Ängste und Sehnsüchte.Sandmann4657

Es war Heises Intention, in seiner Choreographie einen tiefgehenden Fokus auf diese beiden Menschen zu legen. Nicht nur das ist ihm und allen Mitwirkenden gelungen, sondern auch die Freilegung von zeitgemäßem Potential des Balletts, seiner atmosphärischen wie erzählenden Kraft.
 
Ballett der Oper Graz "Sandmann" Uraufführung: Dienstag, 30.Oktober 2018, Studiobühne der Oper Graz. Weitere Vorstellungen am 2., 3., 10., 15., 17., 18., 20., 22., 25. November, 1. und 12. Dezember. Zusatzvorstellungen am 19. Dezember 2018 und 6. Jänner 2019