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Odeonheft1Es ist ein besonderer Glücksfall, wenn ein Text so passgenau auf Darsteller*nnen trifft, wie in Jacqueline Kornmüllers Inszenierung von Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“. Die Tänzerinnen Mercedes und Miriam Vargas verkörpern den Prozess der Entmenschlichung der Zwillingsbrüder in Sprache und Gestik ebenso überzeugend wie berührend. Peter Wolf glänzt als bösartige Großmutter. Für das Serapionsensemble und das Odeon eröffnet diese Koproduktion neue und spannende künstlerische Perspektiven.

Die „alte Hexe“ wird sie genannt, die Großmutter, der die Mutter die Zwillingsbrüder übergibt. Sie kommen in eine kriegsgebeutelte Welt, in der es keine Almosen, keine Empathie und kein Erbarmen gibt. Und in der die Zwillinge durch disziplinierte Übungen sich selbst das Überleben beibringen. Sich schlagen einander, um die Schmerzen besser zu ertragen, wenn sie von der Großmutter verprügelt werden. Sie lernen, was es heißt, taub und blind zu sein, wie es sich anfühlt, Hunger zu leiden. Und sie schreiben ihre Erfahrungen in ein großes Heft. Sie geben sich Regeln, wie die Sprache zu verwenden ist. Direkt, Tatsachen beschreibend, schonungslos, keineswegs gefühlsverbrämt. Denn: „Die Wörter, die die Gefühle definieren, sind sehr unbestimmt.“ Odeonheft4

Die ungarisch-schweizerische Schriftstellerin Ágota Kristóf hat den Prozess der körperlichen und seelischen Abhärtung in einer minimalistischen und direkten Sprache – auf französisch, ihrer Zweitsprache – gefasst, die die emotionale Abstumpfung brutal vor Augen führt.

Odeonheft2Für Mercedes und Miriam Vargas ist Deutsch die Zweisprache. Bislang waren sie als Mitglieder des Serapionstheaters auf non-verbale Rollen spezialisiert. „In das große Heft“ haben sie nicht nur 70 Minuten lang in der Körpersprache und Mimik von halbstarken Buben zu agieren, sondern auch einen komplexen Text zu vermitteln, der wenig Raum für Ungenauigkeit bietet. 

Die aus Kuba stammenden Zwillingsschwestern meistern diese Aufgabe souverän und bringen die Kälte und Härte dieser Sprache messerscharf zum Ausdruck. Wie auch die aus Japan stammende Manaho Shimokawa als das Nachbarmädchen, das man „Hasenscharte“ nennt. Ihnen gegenüber spielt Peter Wolf die Rolle der Großmutter mit süffisanter Grausamkeit.Odeonheft5

Die Regisseurin Jacqueline Kornmüller stellt den Text in den Mittelpunkt und setzt Aktionen sparsam und punktgenau in Bezug darauf. Die Musik von András Dés, Martin Eberle und Peter Rom schafft das atmosphärische Ambiente. Der Metall-Container als Haus der Großmutter verstärkt das Gefühl der Enge, zahlreiche Decken markieren die Stationen des Weges, auf dem die Zwillinge ihre Erfahrungen und Begegnungen machen. Sind sie am Ende so abgehärtet sind, um sogar die Trennung zu ertragen?

Odeonheft3Etwa 70 Minuten haben die Zuseher*innen einen Prozess der Dehumanisierung erlebt, bei dem weder Zeit noch Ort definiert werden und der in seiner Aktualität unmittelbar berührt. Ein besonderes Theatererlebnis! 

„Das große Heft“ von Ágota Kristóf in einer Koproduktion von Odeon und „wenn es soweit ist“. Premiere am 18. April im Odeon Wien. Weitere Vorstellungen am 25., 26., 27. April sowie am 9., 10., 11. und 15.  Mai 2024

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