La Strada - das ist, wenn seit nunmehr 18 Jahren die Straßen und Plätze von Graz auch während der Woche nicht einmal am späten Abend hochgeklappt werden; das ist, wenn Menschen aller Altersklassen und unterschiedlichster Interessen ihren eiligen Schritt stoppen, bleiben und staunen, Unsinniges (mit-) machen, allein und auf offener Straße laut lachen und in ehrwürdigen Räumen stehend rhythmisch klatschen. In 24 Produktionen und 60 Aufführungen mit 190 KünstlerInnen aus 10 Nationen erstreckte sich das neuntägige Festival heuer von Straßen- über Figurentheater zu Cirque Nouveau und Community Arts.
La Strada, das ist, wenn man nicht sicher ist, ob am helllichten Vormittag in der Innenstadt die Dame mit dem Tablett mit Essen nur gerade schnell um die Hausecke biegt oder doch vielleicht Hilfe braucht bei ihrem unsicheren Schritt, ihrem suchenden Blick: Aber da sind ja noch weitere Menschen „dieser Sorte“: die Compagnie Adhok aus Frankreich in „Èchappées Belles – Issue de Secours“. SeniorInnen, die ausgebüchst sind, um noch ein Mal außerhalb des Altersheims spontan agieren zu können, Neues zu sehen und gesehen zu werden, wenn sie (obgleich ein wenig wackelig) tanzen; gehört zu werden, wenn sie aus ihrer Vergangenheit erzählen. Bei all ihrem Charme und Witz: Man spürt die Härte ihrer Realität – und ist nicht nur amüsiert.
Mit älteren Menschen, Lebensalltag und Alltagsthematik setzt sich auch die Koproduktion von Anna Schrefl/wienerwerk (AT) und La Strada „Wetta“ auseinander: Unterschiedliche Generationen, Amateure und Profis aus den Sparten Tanz und Performance, Chormusik und Sologesang sowie Schauspiel und Textproduktion nähern sich aus und unter verschiedenen Aspekten dem komplexen Thema des Wetters. Aber es ist nicht nur in der Realität nicht unter Kontrolle zu bringen: So witzig, so einfallsreich und treffend der eine und andere Ansatz auch ist und das Areal gut genützt wird, so sehr der Chor und seine köstlichen Liedtexte begeistern oder die Mezzosopranistin Anoki von Arx überzeugt, immer wieder mündet die Überforderung einzelner in flachem Agieren und das überbordende Gesamtkonzept im inhomogenen, holprigen Nebeneinander und in Durchhängern.
Benjamin Vandewalle (BE) öffnet in seinem „Birdwatchin 4x4“ den Blick ebenfalls auf zum Teil Alltägliches, wenn er sein Grüppchen Publikum in einem (von außen abgeschlossen scheinenden) Kubus langsam durch schmale Straßen fährt und dieses unbemerkt Passanten beobachten kann, unter die sich 4 Performer mischen oder an Häusern drapieren. Das Nebeneinander dieser Bewegungskunst , der improvisierten Kontaktaufnahme mit Passanten und der Körperinstallationen im Raum ergeben mit dem Stadtalltag eine Art von Choreographie geheimer Gedanken, faszinierend - auch wenn es den Akteuren hin und wieder an Variationsreichtum fehlt. Ein solcher ist hingegen umso überraschender in einem der südlichen Grazer Stadtviertel dank Kunstlabor von uniT zu erleben: „Hello and Goodbye“ nennt sich das mehrjährige Projekt rund um Ankommen, Verweilen und Abfahren. Ein Teil davon wird im Zuge mehrerer, thematisch unterschiedlicher, geführter Fahrradtour zu ausgewählten Orten und Menschen, die Einblick in ihren Alltag gewähren, präsentiert: eine wohldurchdachte, feinfühlige Recherche, eine kreative Konzeptaufbereitung, die so manchen Denkanstoß beinhaltet – für Publikum und Akteure.
Mitdenken, gleichermaßen aufmerksames wie anspruchsvolles, ist schließlich oberstes Gebot bei der neuesten Produktion von Steinbauer&Dobrowsky (A), bei der Uraufführung von „MimiCry“, einem Monolog von und mit Dorothee Steinbauer. Großzügige Belohnung ist jedem offenen Ohr sicher, auch jedem Auge, selbst wenn die Protagonistin „nur“ ihre Runden um das im Kreis sitzende Publikum dreht, ihre Gedankenrunden – wie anders könnte man das besser machen! Das, was Frau so durch den Kopf geht, angeregt durch das, was sich Kafkas halbdressierte Schimpansin Mimi, Gespielin Rotpeters, gedacht haben mag, gedacht haben könnte … . Das lässt kaum jemanden kalt, das wirkt in einer derartig unbarmherzigen Interpretation lange, sehr lange nach: bestürzend und bestärkend, beunruhigend und motivierend.
Ein kleiner Schritt nur fehlt, um sich zum Abreagieren und mit Murmuyo Metrayeta (CHI) im Ungehorsam einzuüben. Zugegeben, ein bisserl Mut gehört schon dazu bei seinen Straßenaktionen: seinem Anhalten von Autos und deren Weiterwinken bei Rot; seinen Ausstiegsaufforderungen und eigenem Weiterfahren mit fremdem Auto, beim „Schlafen“ in der Straßenmitte etc. Aber auch wenn es Ersatzhandlungen sind: Sie tun unglaublich wohl und selbst die Einbezogenen scheinen zum allergrößten Teil Spaß am Fehlverhalten zu haben.
Straßentheater zum Thema Ankommen, Bleiben, Wegfahren bieten auch und ganz anders Les Clandestines (FR) in ihrem „Boots and Roots“: Mit Musik und Texten bahnen sie sich, jede mit ihrem Brett allein und gemeinsam, einen nachdenklich, realistisch-fantasievollen Weg durch Vergangenes, einen etwas anderen Blick auf Amerika; gleichermaßen schwungvoll-unterhaltsam wie informativ.
Figurentheater hat beim Festival lange Tradition und insbesondere durch einen seiner ganz großen Vertreter, durch Neville Tranter (NL), eine breite Fangemeinde. In beiden seiner in Graz gezeigten Produktionen, „Mathilde“ und in „The King“ stehen das Älter-Werden, das Alter, das Erinnern im Fokus; nicht unähnlich dem, was auch sein bereits überaus erfolgreicher, den Grazern bestens bekannter Schüler Nikolaus Habjan in seinem „Becoming Peter Pan – An Epilogue to Michael Jackson“ thematisch behandelt und vor begeistertem Publikum im Festival-Rahmen zeigte. Auf gleicher Ebene wie die mit Ironie wie Feingefühl behandelten Thematik steht freilich - und vor allem im Fall Figurentheater - die darstellerisch-formale Komponente: Die Ausdruckskraft jeder Faser dieser Puppen, die außergewöhnliche Kompetenz in ihrer Führung und schließlich das immer und immer wieder begeisternde Faszinosum der Rezipienten-Akzeptanz eines „gleichwertigen“ Neben- und Miteinander von Mensch und Puppe – wider allem besseren Wissen. Eine Erfahrung, die in dieser Intensität im „multimedialen“, mit La Strada koproduziertem Figurentheater „Looking for Brunhild“ von Triebwerk Berlin nicht erlebbar war. Auch wenn das große Epos auf ein 80 minütiges und in seinem Inhalt grundsätzlich spannend veränderten Puppentheater-Plot herunter gebrochen worden ist: Es fehlte letztlich an überzeugendem Witz, an greifbarer Lebendigkeit, an tatsächlich neuen Gedanken.
Zuletzt – und auch die obige Besprechungsauswahl ist lediglich eine der möglichen – zu drei der vier Produktionen aus dem Bereich des Cirque Nouveau:
Nach einem ersten, nicht vollständig überzeugenden Kennenlernen eines Programmes von Cirque Inextremiste in diesem Rahmen im Vorjahr, war heuer schon der Ort – open air im Areal von Reininghaus - für diese Art der Performance passender. Und das, was als „Extension“ vorgeführt wurde, ein in sich abgerundetes Ganzes von hoher technischer Qualität: eine kraftvoll –zarte Metapher für den derzeitigen Weltentanz auf dem Vulkan. Chapeau.
Als kleinere outdoor-sister dessen, was im Opernhaus gezeigt wurde, gaben Le collectif de la Bascule am Grazer Hauptplatz in „Quand quelqu’un bouge“ zum Besten: mit frechem Spaß am Witz und eingestreuter Irreführung des Publikums zeigten das Kollektiv „ganz nebenbei“ und, wenn sie gerade wollten, mit Schwung und Tempo, was sie an akrobatischer Technik draufhaben.
Und last not least in der Grazer Oper: The 7 Fingers (CA) mit „Cuisine & Confessions“, frei übersetzt als „Küchenkunst“ um all das, was an Wesentlichem im Leben und also in der Küche passiert: an Kommunikation, Reflexion, Diskussion, Emotion… . Allein, für dieses lückenlose akrobatisch-tänzerische Zusammenspiel, für diese Einzelleistungen, für diese Choreographie, dieses Understatement, diese charmante Bühnenpräsenz fehlen die Worte, geht jeder Kommentar an der künstlerischen Realität vorbei. Nicht enden wollender, stehender Applaus, Trampeln und Zurufe sind wohl das einzig annähernd Adäquate, um dieser sympathischen, genialen Ausnahme-Formation seine Reverenz zu erweisen.
La Strada Graz 2015: 31. Juli bis 8. August