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DornroeschenLInz2Nach „Schwanensee“ von Chris Haring in der letzten Spielzeit (tanz.at berichtete), setzt die Linzer Ballettchefin Roma Janus nun mit „Dornröschen“ ihre Erneuerung der klassischen Ballettliteratur mutig fort und beweist dabei ein glückliches Händchen in der Wahl der Künstler. Andrey Kaydanovskiy hat mit einer Umdeutung des Märchens sowie einer radikalen choreografischen Erneuerung kein Risiko gescheut – und mit Bravour überzeugt. Dieses Dornröschen rockt!

Das liegt gleichermaßen an der wunderbaren und engagierten Performance der Tänzerinnnen und Tänzer von TANZ LINZ, die jeweils mehrere Rollen verkörpern, sowie des Bruckner-Orchesters unter der Leitung von Marc Reibel, und an einem sorgfältig konzipierten dramaturgischen Konzept für die neue Story.DornroeschenLInz3

Die Story

In dieser Beziehung ist Andrey Kaydanovskiy ein Traditionalist: er glaubt an die Kraft der Story – zu Recht. Für sein Dornröschen hat er das ursprüngliche Märchen in eine Geschichte des Erwachsenenwerdens überführt. Prinzessin Aurora wächst im goldenen Käfig des rosaroten Palastes auf. Bei der Feier zu ihrer Geburt ebenso wie am 16. Geburtstag der Prinzessin sind die Feen (der Schönheit, der Klugheit, des Reichtums und der Kraft) und ihre Begleiter, der Haushofmeister und die königlichen Eltern in trunkener Laune. Das Bühnenbild von Karoline Hogl und die Kostüme von Melanie Jane Frost triefen geradezu von der picksüßen Atmosphäre der dort Agierenden. Die dekadente Welt der Exzesse und Intrigen wird zur erdrückenden Oberflächlichkeit.

DornroeschenLInz6Aurora (Elisa Lodolini) spielt einsam im Bühnenhintergrund, bevor sie sich als renitenter Teenager bemerkbar macht. Carabosse (en travestie: Yu-Teng Huang) stellt in dieser Geschichte einen nüchternen Gegenpol dar, der das rosarote Ambiente mit einem schwarzen Schatten trübt. Und wenn sie dem Mädchen – statt der Spindel – einen roten Schuh ihrer Mutter präsentiert, fällt Aurora aus dem Fenster. Und der Palast versinkt.Im zweiten Akt wird er als blassrosa Wolke über dem Wald schweben, in dem Aurora aufwacht.

In Carabosse findet sie eine Mentorin, die Schutz bietet und ihren Weg begleitet. Sie trifft allerlei Waldbewohner*innen (damit haben auch ein Vogel, eine Katze und ein Wolf aus den Divertissements der Urfassunng ihren Auftritt) und erforscht mit vier Prinzen (Pavel Povrazník, Matteo Cogliandro, Pedro Tayette, Lorenzo Ruta) im hinreißendsten Rosen-Adagio aller Zeiten ihre Sexualität. Sie scheint auf dem besten Weg in die Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben. Doch dann kommt Prinz Desiré (Mischa Hall), der hier als verliebte Dumpfbacke auftritt und Dornröschen nicht mehr gehen lässt (in Gender-Umkehr zu Mats Eks Giselle). In diesem Moment kommt die Palastgesellschaft wieder in Aktion und freut sich diebisch, dass Aurora nun vom Prinzen versorgt wird. Gegen ihren Willen und Widerstand wird sie nun verheiratet … Carabosse bleibt wehklagend zurück. DornroeschenLInz4

Diese Geschichte wird in Linz mit 16 Tänzer*innen und einem großen Orchester in einer sorgfältigen Dramaturgie (Roma Janus) erzählt. Tschaikowskys Partitur wird gekürzt, die Abfolge geändert. Eine tragende Rolle übernimmt auch das Sounddesign von Angel Vassilev, das sehr gezielt und sparsam Schlüsselmomente wie den Fenstersturz oder die Auftritte von Carabosse begleitet. Das Kunststück gelingt, dass diese elektronischen Interventionen nicht als Fremdkörper wirken, sondern sich nahtlos in die Musik einfügen. 

DornroeschenLInz9Die Bewegungssprache

Dass Andrey Kaydanovskiy mittlerweile zu den interessantesten Ballett-Choreograf*innen zählt, liegt, abgesehen von seinen Erzähltalent, daran, dass er sich vom traditionellen, klassischen Schrittrepertoire lösen und einen kraftvollen und dynamischen Bewegungsduktus entwickeln konnte. Bei aller sinnestrunkenen Ausgelassenheit sind die Bewegungen im ersten Teil einem absurd anmutenden, manieristischen Stil verhaftet, während sie im zweiten Akt in der „Welt draußen“ zur vollen Entfaltung gelangen. Partnering-Techniken, die den zeitgenössischen Tanz in den letzten Jahrzehnten so spannend gemacht haben, hat Kaydanovskiy ganz selbstverständlich seinem Repertoire einverleibt. Außerdem bringt er in seine Choreografie Bewegungswitz und einen Sinn für surrealen Humor ein. Etwa, wenn die Hofgesellschaft sich aus der über sie zusammengefallenen rosa (Stoff-)Blase mit theatralischen Lautgebungen zu befreien sucht, oder in der Rolle des Haushofmeisters Catalabutte (Samuel Arthur Sicilia).DornroeschenLInz5

Kaydanovskiy ist außerdem musikalisch, lässt sich von der Musik leiten, macht sie zum Motor der tänzerischen Entwicklung. Dabei unterstreicht der Choreograf die Zeitlosigkeit von Tschaikowskys Melodien, ja die Vorwegnahme der Rhythmik, die man heute in der Pop-Kultur findet. Die Tänzer*innen rocken und shaken, und das Spiel mit Gewicht und Gegengewicht, mit Körperverschraubungen und Entspannungsmomenten finden im Pas de cinq von Dornröschen und den vier Prinzen ihren Höhepunkt. Das Rosenadagio, das sich als Zitterpartie jeder Ballerina ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, ist bei Kaidanovskiy ein Geniestreich der anderen Art, thematisiert es doch gleichzeitig die Befreiung des Tanzes von Konventionen wie auch die Befreiung Auroras von ihren gesellschaftlichen Fesseln.

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Wie zahm nimmt sich dagegen die kürzlich in Wien gezeigt „Dornröschen“-Version von Martin Schläpfer aus, der das Ballett auf über dreieinhalb Stunden ausdehnte (tanz.at-Kritik vom 25. Oktober 2022). Kaydanovskiy hat seine Geschichte in weniger als zwei überaus kurzweilige Stunden gepackt. Wenn der Vorhang fällt, hat man von diesem fantasie- und humorvollen Tanztheater eigentlich noch lange nicht genug. Und auch wenn es hier kein Happy End gibt, macht dieses „Dornröschen“ die Zuseher*innen glücklich.

TANZ LINZ / Andrey Kaydanovskiy: „Dornröschen“, Premiere am 23. Dezember im Musiktheater Linz. Weitere Vorstellungen am 25. Dezember; 5., 14., 18., 26. Jänner; 26. Februar; 3., 24. März; 2., 14., 26. April, 4., 15., 29. Mai; 13. Juni 2023.

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