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02 Hamme Bueste iconZu den immer weitergetragenen, mit dem klassischen Tanz des 19. Jahrhunderts in Bezug stehenden Annahmen gehört eine hartnäckig vertretene Meinung, männliche Tänzer betreffend. Sie seien – so wird kolportiert –, wenn überhaupt vorhanden, von marginaler Bedeutung gewesen. Das Verzeichnis des Hofopernballetts – das Jahr 1884 sei dafür herausgegriffen – gibt eine andere Auskunft. Aufgelistet sind hier 5 Solotänzer, 4 Mimiker, 21 männliche Mitglieder des Corps de ballet und 3 engagierte Eleven. Angesichts der Diskrepanz zwischen Behauptung und belegbaren Zahlen scheint es sinnvoll, nach den Aufgaben der Tänzer zu fragen.

In besagtem Jahr 1884 durch Allüren eines italienischen Solotänzers in Besetzungsschwierigkeiten gebracht, entschloss sich die Generalintendanz der Wiener Hofoper, Ausschau nach geeignetem Ersatz für den wiederholt durch unerlaubt überzogenen Urlaub Aufgefallenen zu suchen. Die Wahl fiel auf Eduard Voitus van Hamme. An ihm als Stellvertreter all seiner Kollegen soll im Folgenden die Stellung des männlichen Tänzers im letzten Drittel des vorvorigen Jahrhunderts beleuchtet werden.03 Hamme Trompete

Obwohl zur Zeit seines Wiener Engagements bereits international renommiert, bestand die Hofoper auf (Probe-)Gastvorstellungen des damals 27-jährigen Holländers. Diese Auftritte dienten sowohl der Überprüfung seiner tänzerischen Exzellenz wie dem Kennenlernen der Persönlichkeit. Die Unterschiedlichkeit des Auszuführenden – es reichte vom noblen Fach über Halbcharakter- und Charakterpartien bis zu einer mimischen Rolle – widerspiegelt das Anforderungsprofil, das ein Haus wie die Hofoper an einen Tänzer in dieser Zeit stellte. Die in der zweiten Julihälfte 1884 absolvierten fünf Vorstellungen – in der ersten tanzte er einen Pas de trois von Paul Taglioni in der Oper „Wilhelm Tell“ – verliefen offenbar positiv, denn man engagierte den am 13. September 1856 in Amsterdam Geborenen ab 1. August 1884 als Solotänzer. Obwohl es in den Folgejahren zu Perspektivenwechsel im Anforderungsbereich an einen Tänzer kam, bewies van Hamme über 37 Jahre hinweg auch hierin seine tänzerische und künstlerische Flexibilität.

Van Hammes erster Auftritt als Mitglied des k. k. Hof-Operntheaters erfolgte in einer Hauptrolle – Saladin, Sultan von Jerusalem – eines Balletts, das ein hohes Mitglied des Kaiserhauses zum Autor hatte: „Die Assassinen“ von Erzherzog Johann Salvator (Choreografie: Carl Telle, Musik: Josef Forster). Als Lehrer rasch auch im gesellschaftstanzenden Wien bekannt geworden, sollte der alsbald den Titel „Professor“ tragende van Hamme dem Haus am Ring bis zu seinem Tod 1921 in den verschiedensten Positionen angehören. Es waren dies – außer der Stelle des Ballettmeisters respektive Ballettregisseurs, die er nicht einnahm – alle hochrangigen Aufgaben, die die Institution Hofoper einem männlichen Tänzer überantworten konnte: Solotänzer und Mimiker, Choreograf, dazu Lehrer an der angeschlossenen Ballettschule. Zu den Aufgaben eines maßgeblichen Mitglieds des Hofopernballetts gehörte es auch, den heranwachsenden Mitgliedern der Wiener Gesellschaft „Anstandslehre“ und Tanzunterreicht in eigenen Instituten zu vermitteln. „Außerhalb des Hauses“ – so war es der Brauch – widmete man sich auch „privaten Geschäften“. Im Falle von van Hamme gingen diese in die Theatergeschichte ein. 

Tänzerische und mimische Diversität

Der Blick auf die Auftritte, mit denen van Hamme schon in seiner ersten Wiener Saison betraut wurde, mag den heutigen Betrachter verwundern, denn diese erweisen sich im Vergleich zu der Zahl, die ein heutiger Solotänzer zu absolvieren hat, als viel höher. Diese Anzahl – es waren zuweilen an die 20 Auftritte pro Monat – ergab sich aus der Gegebenheit, nicht nur in Balletten, sondern auch in den zahlreichen Ballettszenen der Opern aufzutreten. Für van Hamme waren dies bis Ende 1884, das heißt also im ersten Halbjahr seines Engagements in Balletten die bereits erwähnte Partie in „Die Assassinen“, Petersen und Ballabile des gnomes in Taglionis „Flick und Flock“, Charles in Pasquale Borris „Carnevals-Abenteuer in Paris“, Bedienter in Arthur Saint-Léons „Sprühfeuer“, Satyr in Carl Telles Einstudierung von „Sylvia“ und Pas de deux in Julius Prices „Harlekin als Elektriker“. Dazu kamen die wichtigen Auftritte in Opern: Pas de trois in „Die Jüdin“ sowie herkunfts- und standesgemäße Tänze in „Violetta“ („La Traviata“), „Zar und Zimmermann“, „Carmen“ und „Die Hugenotten“.

04 Hamme MondBemerkenswert ist die Diversität der genannten Rollen, die sich aus der Struktur der getanzten Werke ergab. Diese hatte sich aus den verschiedenen – über Jahrzehnte hinweg entwickelten – Ausprägungen von Formen und Bausteinen gebildet. Die meisten Partien, die van Hamme 1884 in Balletten und Opern zu tanzen hatte, stammten aus der Jahrhundertmitte, eine Zeit, in der die früher konzis eingesetzten Themen und Mittel der so erfolgreichen romantischen Ära bereits begonnen hatten auseinanderzustreben. Sowohl „Flick und Flock“ wie auch „Carnevals-Abenteuer in Paris“ (beide 1858) arbeiteten zwar mit alten Mitteln, stellten sie aber in einen neuen Kontext. Taglioni hatte die nummernhafte kürzere zweiaktige Werkform – das Ballett wurde zusammen mit einer Oper gegeben – letztlich auf abendfüllend geweitet. Ein besonderer choreografischer Akzent lag dabei auf jenen von Tänzerinnen ausgeführten Gruppenszenen, die schon ab den Zwanzigerjahren als wichtiger Baustein eingesetzt und wenig später in Balletten wie „La Sylphide“ atmosphärebildend ihren Platz gefunden hatten. Taglioni gab der handlungslos geführten weiblichen Gruppe größeren dekorativen Charakter, siedelte sie in einer von einem Mann imaginierten, daher von Frauen bevölkerten Fantasie-, Zauber- oder allegorischen Welt an und dehnte auch ihre Aufführungsdauer, sodass die bloßen Gruppenformationen auch als eigenständiges Divertissement gegeben werden konnten. (Es sind Szenen solcher Art, die, via Marius Petipa bis heute tradiert, glauben machen, männliche Tänzer hätten im 19. Jahrhundert keine Aufgaben gehabt.) Ganz anders war Borris Werkstruktur. Seine in der Gegenwart agierende Personnage suchte – und dies war die besondere Novität – Abenteuer in einer bereits industrialisierten Welt. Die Nummernhaftigkeit war einem ineinandergreifenden schnellen Szenenwechsel gewichen, der durch Spiellaune gekennzeichnet war. Die beiden so verschiedenen Konzeptionen zogen andere Werkstrukturen und Formen, dazu ein anderes Bewegungsvokabular, nach sich. Van Hamme konnte also schon hier die verschiedenen Facetten seines tänzerischen Könnens, dazu auch sein mimisches Talent ausspielen. War Taglionis Gnomenballabile eher in klassischem Stil gehalten, so lag der Akzent im Borri-Ballett auf dem mimisch geführten Fach des Halbcharakters. Unterschiedlich waren auch die Aufgaben in den Opern. Hier unterschied man, aus der Dramaturgie der Oper entwickelt, zwischen Großszenen, in denen das gesungene Geschehen ganz bewusst auf eine andere – eine getanzte – theatralische Ebene gehoben wurde, oder aber nationalen Tänzen, die halfen, das vorgegebene Lokalkolorit zu verdichten. Beide Szenentypen dienten dazu, einen Höhepunkt aufzubauen, auf den sehr oft eine handlungswendende Katastrophe folgte.

Auch diese unterschiedlichen Herangehensweisen verlangten verschiedene Facetten von Tänzerfächern. War die Großszene eher klassisch gehalten, so verlangten Auftritte in „Zar und Zimmermann“ oder „Carmen“ den Stil des Charakterfaches. Van Hamme war, und dies wurde offenbar den Verantwortlichen, die sich für ihn entschieden hatten, sehr schnell sichtbar, in all diesen Stilen bewandert.

05 Hamme Daeumling

 Ein Weltreisender findet seinen Platz

Als van Hamme seine Position im Hofopernballett antrat, hatte er bereits eine weltweite Karriere hinter sich, ein Umstand, der angesichts seiner Abstammung eigentlich vorgegeben war. Carel Frans Eduard Lambert Voitus van Hamme war als Sohn des Tänzers und Ballettmeisters Andries Voitus van Hamme und der Tänzerin Rosina Bia geboren worden. Andries, selbst einer Schauspieler- und Tänzerfamilie entstammend (er war es gewesen, der seinen Namen „van Hamme“ mit dem ursprünglichen Familiennamen seiner Mutter, „Voitus“, verbunden hatte), bestimmte von 1826 bis zu seinem Tod 1868 das Ballettgeschehen der Amsterdamer Schouwburg, ein Haus, das durch ihn zu einem Anziehungspunkt für die international gastierende Tänzerschaft wurde. Neben Produktionen ausländischer Erfolgsballette wie „La Sylphide“, „Giselle“ und „Esmeralda“ schuf der Amsterdamer Ballettmeister mehr als 200 eigene Werke, von denen viele dem Genre „Boulevardballett“ zugeordnet wurden. 06 Hamme Antoine

Auch Eduards älterer Bruder Antoine machte eine bedeutende Tanzkarriere. Er feierte als Tänzer insbesondere in Amerika große Erfolge und war selbst auch Ballettmeister an der Schouwburg. 1867 gab er gemeinsam mit seiner aus Lyon stammenden Ehefrau Louise Billon und dem französischen Tanzkomiker Auguste Jean Varangot sieben Gastvorstellungen im Wiener Carl-Theater; getanzt wurden unter anderem „Liebesneckerei“, ein Werk, das sich als Adaption von „La Fille mal gardée“ entpuppte, das komische Ballett „Das Weib des Banditen“ und das Divertissement „Nymphen und Schmetterling“. Gegen Ende seiner Karriere sorgte er 1900 im Pariser Hippodrome de Montmartre mit seiner Choreografie für die Pantomime à grand spectacle „Vercingétorix“ für Aufsehen. 

07 Hamme RieseEduard hatte sein Studium bei seinem Vater in Amsterdam begonnen und es dann in Paris bei Théodore (Chion) und Édouard Carey (der wiederum Schüler von August Bournonville war) fortgesetzt. Beide Lehrer waren Solisten der Pariser Opéra gewesen. Schon im Alter von acht Jahren verkörperte Eduard in Amsterdam die Titelrolle in „Klein Duimpje“ („Der kleine Däumling“), ein Ballett seines Vaters, woraus Charles Rochussen eine Szene in einer Lithografie festgehalten hat. Später tanzte auch er in Amerika (in Produktionen des aus Österreich ausgewanderten Impresarios Max Strakosch) und an der Opéra Comique in Paris. 1880 war er – wie zuvor schon sein Vater und sein Bruder Antoine – Ballettmeister an der Schouwburg in Amsterdam. Über Stationen in Deutschland kam er schließlich nach Wien.

An der Wiener Hofoper fand van Hamme ein respektgebietendes Ensemble vor. Dazu gehörte neben der schon erwähnten erheblichen Zahl des männlichen Corps de ballet auch eine ganze Reihe von außergewöhnlichen männlichen Solistenpersönlichkeiten, die sowohl für das Bühnen- wie das Ausbildungsgeschehen verantwortlich waren. Zu ihnen zählten als Ballettmeister und Vorstand der Ballettschule der Deutsche Carl Telle, als Tänzer und Lehrer die Franzosen Alfred Caron und Louis Frappart, der Däne Julius Price, der Österreicher Josef Hassreiter und der Italiener Luigi Mazzantini. Mit seinem französischen Tanzstil reihte sich van Hamme somit hervorragend in die hier arbeitenden Tänzer ein. 

Der kaiserlichen Residenzstadt und den Nationen zu Ehren

Man kann davon ausgehen, dass van Hamme jene tiefgreifenden ballettspezifischen Veränderungen zur Kenntnis nahm, die sich gerade im Wien der Jahre 1884 und 1885 ereigneten. Mit wirklichem Bedauern mochte man den Tod dreier Persönlichkeiten der Ballettszene wahrgenommen haben. Im Januar 1884 starb Paul Taglioni, dessen Werk jahrzehntelang Mitteleuropa dominiert hatte. Für Wien nachhaltig war sein 1870 in Kraft getretenes „Organisations-Statut für die Ballet-Tanzschule am k. k. Hof-Operntheater“. Dieses 43 Paragrafen umfassende „Werk“, das für van Hamme als zukünftigen Lehrer von großer Wichtigkeit werden sollte, regelte die Ballettausbildung des Instituts, das an die Hofoper angeschlossen war. Im April 1884 starb Borri, dessen Ballette gerade wegen ihrer neuartigen Dramaturgie sich größter Beliebtheit erfreut hatten. Den im November 1884 erfolgten Tod von Fanny Elßler sah man als veritable Zäsur an. Mit ihr, so der allgemeine Konsens, war eine glänzende Epoche des Balletts zu Ende gegangen. 08 Hamme Petersen

Ob und in welcher Weise der nun folgende Schwenk in der Ballettästhetik mit diesem Abschluss einer Ära in Zusammenhang zu bringen ist, kann kaum mehr festgestellt werden. Fest steht, dass mit einem Mal anderes von Interesse war. Bis über die Jahrhundertmitte hinaus hatte man weiterhin an Zauber- und Märchenstoffen, Allegorien und Genrebildern festgehalten, die in unbestimmten Zeiten spielten. Wohl siedelte man die aufgegriffenen Themen – auch der Farbe von Volkstänzen wegen – an bestimmten Orten an, wenig kümmerte man sich jedoch um Authentizität eines solchen Lokalkolorits. Durch das „Fremde“ intensiviert und von einer erotisierten Aura umgeben, boten von Frauen ausgeführte spanische, böhmische oder polnische Tänze mannigfache Facetten von Weiblichkeit dar. Duktus, Schrittmaterial, Armführungen und die Haltung des Oberkörpers hielten sich zwar an Charakteristika der Volkstänze, der Fokus der Ausführung lag aber wohl auf der virtuosen Beinarbeit, die an sich Kennzeichen des Tanzes jedweden Stils vor der Jahrhundertmitte war.

Nunmehr, in den Achtzigerjahren, stand ein ganz anderer Aspekt im Vordergrund: Man huldigte einer ganz bestimmten Nation, ihren Bräuchen und Ausprägungen. In Wien war eine Grundlage dafür unter anderem das sogenannte „Kronprinzenwerk“, ein letztlich 24-bändiges Werk, das als „landeskundliche Enzyklopädie“ verstanden werden wollte und den Titel „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ trug. Kronprinz Rudolf hatte das Unternehmen 1883 angeregt. Dass bei diesem Huldigungswerk der Haupt- und Residenzstadt Wien eine besondere Rolle zukam, versteht sich von selbst; dass man damit den bereits existierenden Wien-Mythos – samt seiner Musik – weiter intensivierte, erfreute alle. Im Ballett gelang Frappart 1885 zusammen mit Franz Gaul mit „Wiener Walzer“, dessen Intention durch die Definition „Illustrirt in 3 Bildern“ spezifiziert wurde, das wahrscheinlich erfolgreichste Werk zu dieser Thematik. Josef Bayer, der die Zusammenstellung der Musik besorgte, und der Librettist Gaul, seines Zeichens auch szenisch-technischer Oberinspektor des k. k. Hof-Operntheaters und Historienmaler, sollten auch zu Mitarbeitern van Hammes werden.

Inwieweit veränderte dieser Schwenk nun den Aufgabenbereich des männlichen Tänzers? Hatte etwa van Hamme, der Teil der Uraufführung von „Wiener Walzer“ gewesen war, nunmehr anders zu tanzen? Ausgehend von der Tatsache, dass die Handlung nicht nur historische, sondern auch ganz reale zeitgenössische Geschehnisse zum Inhalt hatte – eingebettet in die Entwicklung des Wiener Walzers, die selbstverständlich in eine Huldigung an Johann Strauß Sohn mündete, wird vom Aufstieg einer Wiener Familie erzählt –, kann davon ausgegangen werden, dass die vorhandenen Tänzerfächer Akzentverschiebungen unterworfen waren. Da man darüber hinaus mit einem Mal an der Authentizität eines Volkstanzes interessiert war, bedeutet dies für van Hamme ein Umdenken nicht nur in der Auffassung dieser Tänze, sondern auch in der Ausführung. Hatte man sich bereits auf der Ballettbühne der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv mit der Polka und ihren ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen auseinandergesetzt – als stilisierter Volkstanz, als Gesellschaftstanz sowie als fast noble, klassische Version –, so ist davon auszugehen, dass die Polka, die van Hamme in „Wiener Walzer“ zu tanzen hatte, vor allem erdiger, im buchstäblichen Sinne also bodenständiger ausfiel. Mit dem Akzent auf Authentizität ging aber auch eine Verschiebung in der Geschlechterwertigkeit des tanzenden Paares einher. War es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher die Tänzerin, die den dominierenden Part im Charaktertanz innehatte, übernahm nun der Mann die Führung. 

09 Hamme ExKarikatur„Il progresso contro il regresso – alla grandezza della civiltà“

Nur vier Monate nach dem triumphalen Erfolg von „Wiener Walzer“ erzielte die Wiener Einstudierung von „Excelsior“ – ein Ballett von Luigi Manzotti, das 1881 zu Musik von Romualdo Marenco in Mailand uraufgeführt worden war – einen Erfolg, der die Zeichnung einer gemütlichen Wiener Walzerwelt weit in den Schatten stellte. Der Inhalt des Werks: Gleichsam geistig erhellt durch die Erfindung des elektrischen Lichts, verherrlichen zeitgenössische Bürger den technischen Fortschritt, der als Sieg der Zivilisation über die bis dahin herrschende Finsternis verstanden wird. In einem überbordenden, abendfüllenden sechsaktigen Spektakel in elf Bildern, ausgewiesen als „azione coreografica, storica, allegorica, fantastica“, werden in einer ebenso furiosen wie raschen Aufeinanderfolge die technischen Errungenschaften der Zeit aneinandergereiht: die Erfindung des Dampfschiffs, die Nutzung der Elektrizität, das Telegrafenwesen. Dazu kam das Zusammenrücken von Völkern durch Gemeinschaftsarbeiten wie den Bau eines verbindenden Tunnels durch die Alpen, die Eröffnung des Suezkanals oder die erste Fahrt eines Zuges über die Brooklyn Bridge. Hatte „Wiener Walzer“ „nur“ Mitteleuropa erobert, so ging „Excelsior“ buchstäblich um die ganze Welt. Das enorme Interesse an dem Werk – allein in den 1880er-Jahren gab es mehr als 70 Produktionen – ist nur mit dem an den großen Erfolgsoperetten der kommenden Jahre zu vergleichen. Zu Städten wie Paris, London, St. Petersburg, Moskau und New York gesellte sich auch Graz, das 1896 eine eigene Produktion herausbrachte und diese en suite spielte. (Am Rande sei erwähnt, dass sich schon in dieser Zeit Spezialisten für Einstudierungen von Werken anderer herausgebildet hatten. So etwa brachte der spanische Tänzer und Choreograf José Mendez „Excelsior“ in Wien und in anderen Städten heraus, in Graz besorgte Mazzantini die Einstudierung, jener als Ballettmeister an das Opernhaus in Budapest gegangene Italiener, dessen Stelle an der Wiener Hofoper van Hamme 1884 übernommen hatte.)10 Hamme Wattenwuel

Obwohl die Residenzstadt Wien mit all den dargebotenen technischen Errungenschaften vertraut war, ließ das nunmehr geballt Gezeigte die Zuschauer völlig überwältigt zurück. Das Ballett verstand es nämlich, das Publikum sich selbst nicht nur als Nutznießer all dieser Erfindungen fühlen zu lassen, sondern implizierte darüber hinaus, die Zuschauer selbst hätten Anteil an deren Etablierung gehabt. Jeder Bürger sei, so die Aussage von „Excelsior“, Teil einer selbst gestalteten modernen, daher besseren Welt. Wie in Wien schon erprobt, war es auch in „Excelsior“ der Einsatz des elektrischen Lichts, der immer wieder verblüffte. Schon 1883 – wie in „Tanzende Praterblüten – II: ‚Volles Licht‘“ der „Wiener Tanzgeschichten“ (15. April 2016) näher ausgeführt – war das Hofopernballett an der Internationalen Elektrischen Ausstellung in der Rotunde im Prater mit einem Divertissement beteiligt. Das Zustandekommen dieser Produktion dokumentiert, in welchem Spannungsraum die Verantwortlichen des Ballettensembles zu agieren hatten. Der Ballettmeister und der szenische Oberinspektor hatten sich nämlich zuerst außerstande erklärt, zusätzliche Arbeit, noch dazu außer Haus, zu liefern. Dieser Standpunkt wurde nicht akzeptiert, denn, so die „Obrigkeit“, die Ausstellung sei von größter Wichtigkeit. Umso mehr als der in Wien sehr bekannte Hofrat Karl Brunner von Wattenwyl, der eine Reorganisation des österreichischen Telegrafenwesens vorgenommen hatte, so viel zur Popularisierung der technischen Anwendungen der Elektrizität beigetragen hatte. Unwillig überantwortete man nun dem noch unerfahrenen Josef Hassreiter die Praterarbeit und verhalf so dem später berühmten Ballettschöpfer zu seinem Debüt als Choreograf. Das Publikum erfreute sich daran, und die Karikatur kürte Wattenwyl zum Urheber eines „Heliogen Ballet“, der sein eigenes Werk elektrisch beleuchtet. 

11 Hamme ExcelsiorBallerino italiano 

Die weltweiten Aufführungsserien von „Excelsior“ brachten aber auch erhebliche Auswirkungen auf den Bühnentanz selbst mit sich. Wesentliches war davon betroffen: Zu Änderungen in der Dramaturgie, der Werkstruktur sowie von Formen kamen Verschiebungen in der Ordnung sowie der Präsentation von Tänzerfächern. Beides war auch für den Tänzer van Hamme von Relevanz. Zwar hatte – auch in „Wiener Walzer“ – bereits ein übergreifender Erzählrahmen existiert, der italienische Stil, der nunmehr – wiederum – auf der Bühne der Hofoper zu sehen war, veränderte jedoch den in Wien bereits seit Jahrzehnten gepflegten französischen Stil. Hatte man in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, verursacht durch den ständigen Wechsel zwischen italienischen und französischen TheaterkünstlerInnen, so etwas wie einen Mischstil vertreten, so dominierte durch das Wirken von Taglioni, Telle und auch Bournonville eher die französische Schule. „Excelsior“ löste nunmehr eine Konzentration auf das Italienische aus. Für Wien – und auch für andere Städte wie etwa St. Petersburg – war einiges neu. Zum einen war dies der Kontrast zwischen der breit ausladenden, mimischen, durchaus pathetischen Rollenauffassung der allegorischen Figuren Luce, Tenebre und Civiltà und dem so schnellen, fast revuehaften Wechsel von in sich geschlossenen Episoden. Diese Auffassung fand in der ausdrucksstärkeren und virtuoseren Präsentation der Tänzerfächer ihre Entsprechung. War ganz Europa mit der italienischen Variante der Ballerinenrolle, deren Augenmerk auf virtuoser Spitzentechnik lag, mittlerweile vertraut, so lernte man nun – in der Rolle des Sklaven – das männliche Pendant dazu kennen. Seine Virtuosität wurde durch ein Schrittrepertoire erzielt, das früher den Charaktertänzern, mehr noch den Grotesken angehörte, von der französischen Schule aber als „vulgär“ angesehen wurde. Die Ausführenden der nunmehr vermehrt in das noble Männerfach eindringenden Sprünge wurden, weil außergewöhnlich, in Rezensionen oft mit dem aus dem Zirkusgenre übernommenen Begriff „Springer“ apostrophiert. Neu für Wien war auch die Beziehung der Partner in einem Pas de deux. Zwei Varianten begannen sich herauszubilden: Zum einen wurde die – heute noch in Bournonville-Balletten erhaltene – stark dialogisierende Form abgelöst von einem auf sich selbst konzentrierten Tanzen mit jeweiligen Variationen, zum andern eine Form, in der dem später sogenannten „Pas-de-deux-Tänzer“ die Aufgabe zufällt, die Ballerina zu präsentieren, das heißt sie bei Balancen zu unterstützen, sie anzuheben oder sie – keinesfalls hoch – zu heben. (Die schulterhohen Hebungen, die offenbar schon in den Siebzigerjahren üblich waren, entsetzten zum Beispiel Bournonville.)12 Hamme Tableau

In „Excelsior“ findet sich auch eine andere und besondere Art der Präsentation der Ballerina, eine Form, die etwa im Rosenadagio von Petipas „Dornröschen“ (1890) eine berühmte Nachahmung fand: Im Pas Cosmopolite wird die von einer Ballerina getanzte Civiltà von vier Kavalieren begleitet. Von den Änderungen war auch der Charaktertanz betroffen. Er wurde nunmehr noch stärker männlich akzentuiert dargeboten. Miteinbezogen wurden jetzt auch im Volkstanz übliche kleine Tanzspiele, die Gelegenheit boten, Solotanzpaare herauszugreifen. Änderungen betrafen auch die Formationen der Gruppen. Auf eine wesentlich höhere Anzahl vergrößert, hatte man offenbar kleingliedrige Formen aufgegeben und bewegte sich sehr oft marschartig en bloc sowie in Aufmarschzügen. 

Fast alle diese Neuerungen wurden (nicht nur) in Wien übernommen. Übernommen wurde auch das neue Image des männlichen Tänzers, das die Hofoper offenbar in den Neuengagements von Solotänzern bereits berücksichtigte. Dies betraf (in Klammern das Jahr des jeweiligen Beginns des Engagements) den Deutschen Otto Thieme (1885), den polenstämmigen Carl Godlewski (1893), den Italiener Nicola Guerra (1896) sowie die aus der Wiener Schule hervorgegangenen Österreicher Carl Raimund (1886) und Leo Dubois (1893).

13 Hamme BosProgrammVon Bosnien … 

In den fast zehn Jahren, die van Hamme nunmehr an der Hofoper tätig war, hatte er nicht nur seinen Platz im Ensemble gefunden, sondern war bereits 1889 zum Lehrer der Ballettschule der k. k. Hofoper aufgestiegen. Es ist davon auszugehen, dass van Hamme schon in diesen Jahren auch als Lehrer bei Hof tätig war. Ob die hohe Ehre, die ihm 1893 mit der Überantwortung einer Ballettregie zuteil wurde, damit in Zusammenhang steht, kann wohl nicht mehr herausgefunden werde. Die Uraufführung von van Hammes Ballett „Eine Hochzeit in Bosnien“ wurde als Théâtre paré, das heißt als ein in der Oper stattfindendes Hoffest gegeben, ein Abend, der nur für geladene Gäste zugänglich war. Anlass für das am 21. Jänner 1893 gegebene Ballett war die Hochzeit der Nichte des Kaisers, der Erzherzogin Margarethe Sophie, mit dem Neffen des württembergischen Königs Wilhelm II., Herzog Albrecht. Obwohl nachzuvollziehen ist, dass „Gebietsgewinne“ für das Habsburgerreich an sich Grund zur Freude sein konnten, ist rückblickend gesehen, kaum ein Grund zu finden, warum der Hof sich ausgerechnet 1893 über den „Zugang“ Bosniens freuen sollte. Bosnien und Herzegowina war beim Berliner Kongress von 1878 unter die „Verwaltung“ der Habsburger gestellt worden, die Annektierung folgte erst 1908. 14 Hamme Bosnisch

Bemerkenswert allerdings, was die Autoren des Balletts, Gaul und van Hamme, auf die Bühne brachten. Sie bezeichneten, nachdem Gaul im Sommer 1892 das Land zu Forschungszwecken bereist hatte, ihr Ballett als „Szenen und Bilder aus dem Volksleben“, die Musik von Bayer war „unter Benutzung nationaler Motive“ komponiert. (Es ist nicht auszuschließen, dass Gaul bei seinen Erkundungen auf den damals in Sarajewo stationierten General der k. u. k. Armee Rudolf Laban de Váralja traf, der just in diesem Sommer von seinem damals zwölfjährigen, nachmalig als Rudolf von Laban Tanzgeschichte schreibenden Sohn besucht wurde.) Die Besetzungsliste von „Eine Hochzeit in Bosnien“ wies neben dem Hochzeitspaar und den dazugehörigen Personen wie Eltern, Beistand, Gevatter, Hochzeitsführer, Lustigmacher (van Hamme selbst) und Dudelsackpfeifer auch einen mohammedanischen und einen orthodoxen Grundbesitzer aus der Herzegowina auf, daneben einen mohammedanischen Geistlichen, einen Franziskaner und einen Popen. Besondere Tänze waren ein Hackentanz, ein Tanz der Mohammedanerinnen, ein Tambourintanz, zwei Kolos und ein „Zigeunertanz“ sowie ein von Wiener Vergnügungsreisenden eingeführter Walzer. Den Schluss des Balletts bildete eine patriotische Huldigungsapotheose, in deren Mitte, jeweils von einer Mimikerin dargestellt, Austria, Hungaria und Bosnia vereint waren. 

15 Hamme BosGebetAb der zweiten Vorstellung in den regulären Spielplan übernommen, wurde van Hammes „Eine Hochzeit in Bosnien“ als „reizende Ethnographie unserer jüngsten Staatsbürger“ angesehen, wobei extra betont wird, dass „flotte Muselmänner“ in der Hofoper erschienen waren, um den Ballettmitgliedern vorzuführen, wie man einen „ordentlichen Kolo“ tanzt. Mit der Versinnbildlichung der „Verbindung des Wiener Elements mit der bosnischen Nationalität, nämlich des bosnischen Tanzes Kolo mit dem Wiener Walzer“, hatte das Hofopernballett einmal mehr seinen politischen – völkerverbindenden – Auftrag erfüllt. Im Übrigen freute man sich über die in der Stadt auftauchenden „lieben Bosniaken“ mit dem roten Fez am Kopfe. 

… nach Pontevedrino – ganz nach Pariser Art 16 Hamme Grisetten

Man könnte der Auffassung sein, ein Choreograf habe in der Bühnenrealisierung der „Lustigen Witwe“ nicht allzu viel zu tun. Schrittvokabular und Bewegungsfolgen seien bei den vorkommenden Tänzen ohnedies vorgegeben. Walzer, Kolo oder auch der Cancan seien allbekannt, die Formationen der Grisetten, die Aufstellung des Kolos oder die Art der Paarbeziehung im Walzer könne auch ein tanzaffiner Regisseur stellen. Dem könnte nur dann zugestimmt werden, wenn man die genannten Tänze als Gesellschafts- beziehungsweise stilisierte Volkstänze auffasste. In der „Lustigen Witwe“ – der „Tanzoperette“ schlechthin – verhält es sich aber anders. Dies deswegen, weil dem Tanz hier eine andere und noch wichtigere Funktion zukommt als jene im Gesellschaftstanz. Vom Komponisten – Franz Lehár – und seinen Textdichtern – Victor Léon und Leo Stein – solcherart konzipiert, ist es hier nämlich der Tanz selbst, durch den die Protagonisten körperlich das auszudrücken haben, was über das Gesprochene und Gesungene hinausgeht. Angesichts der bestimmenden Präsenz des Tanzes beziehungsweise von Begriffen der Bewegung, die den Text durchpulsen, kann in diesem Zusammenhang ein Naheverhältnis des Textdichter Léon nicht nur zum Tanz an sich festgestellt werden, sondern auch zum Choreografen der angesprochenen Tänze: In der 1905 im Theater an der Wien uraufgeführten „Lustigen Witwe“ war dies van Hamme. Beide, Léon und van Hamme, hatten bereits 1899 bei der Uraufführung von Johann Strauß᾽ „Wiener Blut“ im Carl-Theater zusammengearbeitet, Fortsetzungen dieser Partnerschaft folgten 1905 im Theater an der Wien mit Leo Aschers „Vergeltsgott“, 1907 bei den Operettenfestspielen in Mannheim mit Leo Falls „Der fidele Bauer“ und 1908 im Carl-Theater mit Falls „Die geschiedene Frau“. Ein erstes Aufeinandertreffen mag aber schon an der Hofoper stattgefunden haben als Léon dort als Librettist des 1898 herausgekommenen Balletts „Struwwelpeter“ (Choreografie: Thieme, Musik: Richard Heuberger) in Erscheinung trat.

17 Hamme GoldstiefelVan Hamme also hatte in der „Lustigen Witwe“ die diffizilen Geschlechterbeziehungen der Handelnden herauszuarbeiten, dazu die unterschiedlichen Körperschaften in Stellung zu bringen: Für das Hauptpaar war es der leitende Bewegungsduktus mit den besonderen Figurationen des wiederholten Sichnäherns, auf das ebenso oft das Zurückweichen folgt; für das Buffopaar galt es, den hinter seiner sprühenden Angebeteten Nachhechelnden nicht allzu sehr als Verlierer aussehen zu lassen; die Grisetten sollten in „Goldlack-Stiefletten“ trippelnd eine nicht ganz ungefährliche (städtische) Fraueneinheit bilden; die Tänzer des Kolos eine dazu kontrastierende ländliche Körperschaft. Und gegen all die Frauen sollten die hauptagierenden Männer im „Weibermarsch“ als geballte vereinte Kraft ankämpfen. Dass dieser Angriff sich letztlich in Nichts auflöst, mag sie deswegen nicht weiter stören, als untereinander der Schein der männlichen Dominanz gewahrt bleibt. 18 Hamme Lustige

Dass van Hamme all diese Nuancen, besonders aber die Beziehung des Hauptpaares in einer kongenialen Zusammenarbeit herauszuarbeiten vermochte, ist in die Theatergeschichte eingegangen. Mizzi Günther, besonders aber der unvergleichliche Louis Treumann, waren nämlich nicht nur die für die Operette idealen tanzenden Sängerschauspieler, sie waren auch bereit, ihre besonderen körperlichen Voraussetzungen von einem Choreografen formen zu lassen. Insbesondere verstand es van Hamme, für Treumanns ebenso raffiniertes wie manieriertes Spiel mit Nuancen seines Fachs – vom Halbcharakter des ursprünglichen „jugendlichen Gesangskomikers“ ausgehend, kreierte der Schillernde eine einzigartige Verschmelzung von Noblem mit Groteskem – entsprechende Figurationen und Bewegungsfloskeln zu entwickeln. Ludwig Hirschfeld erklärte in einem 1923 in der „Neuen Freien Presse“ erschienenen Rückblick, bei der Uraufführung der „Lustigen Witwe“ „die erste zum dramatischen Moment arrangierte Tanzszene“ in einer Operette erlebt zu haben – damals, „als zum ersten Mal Herr Treumann Frau Günther beim Halse fasste und so mit ihr freischwebend kreiselnd tanzte, da war das geradezu eine Operettentat.“ 

Sätze aus der oft zitierten Betrachtung Felix Saltens in „Die Zeit“ (8. Dezember 1906) über Treumanns Danilo seien hier ebenfalls herangezogen: „Er schleudert sich in den Tanz, wie einer, der von Gluthitze versengt ist, sich in ein kühles Bad wirft. Im Tanz scheint sich sein Körper erst selbst zu fühlen, scheint sich selbst zu genießen, scheint nur aus Lust an der eigenen Geschmeidigkeit, nur aus Freude an sich selbst, scheint nur für sich allein zu tanzen.“ 

Omnipräsent in Theater und Gesellschaft 

Angesichts der ungemein verschiedenartigen Rollen und Aufgaben, die van Hamme sowohl vor der Arbeit an der „Lustigen Witwe“ als auch danach übernommen hatte, sei resümierend an die eingangs erwähnte Überzeugung vieler erinnert, wonach Männer im (Bühnen-)Tanz nicht existierten. Das Beispiel van Hamme zeigt, dass das Gegenteil der Fall sein konnte. Ein Blick auf Rollenkreationen, Gastspiele, Arbeiten außer Haus sowie seine Lehrtätigkeit im Bühnen- wie im Gesellschaftstanz stellt dies unter Beweis. 

19 Hamme SonneVon van Hammes exakt 100 Partien seien nur jene in den „Top 4“-Balletten der nach Aufführungszahlen gemessenen „Ewigen Bestenliste“ des Hauses am Ring genannt: In Hassreiters „Die Puppenfee“ (1888–2008 845 Aufführungen) kreierte er den Polichinello und verkörperte später den Bauern, in Frapparts „Wiener Walzer“ (1885–1940 601 Aufführungen) war er der Erstinterpret des Hans Wurst und der Polka, in Hassreiters „Sonne und Erde“ (1889–1927 362 Aufführungen) kreierte er den Dichter, und in „Excelsior“ (1885–1913 329 Aufführungen) war er – 1903 auch als Partner der in Wien gastierenden Matilda Kschessinskaja – der Chinese im Pas Cosmopolite. Bis zur Saison 1920/21 als Solotänzer Mitglied des Hauses, wirkte er ab der Jahrhundertwende vorwiegend als Mimiker, so auch in „Reformwerken“ wie Erich Wolfgang Korngolds „Der Schneemann“ (1910) und Arthur Schnitzlers „Der Schleier der Pierrette“ (1911). Gastspiele führten ihn 1891 gemeinsam mit der Primaballerina Luigia Cerale und Otto Thieme nach Berlin (Lessingtheater) und Prag (Neues Deutsches Theater), wo er im Cancan in Frapparts „Margot“ bewies, so das „Prager Tagblatt“, „dass er nicht nur seiner Gebärden, sondern auch seiner Beine Meister“ ist. 20 Hamme Solotaenzer

Schon vor der bereits erwähnten „Hochzeit in Bosnien“ setzte van Hamme 1893 an der Hofoper auch Telles Choreografie „Die vier Jahreszeiten“ neu in Szene, die man aus Giuseppe Verdis „Die sizilianische Vesper“ als separates Ballett herausgelöst hatte. Die Einstudierung stieß aber keinesfalls auf Gegenliebe, man fand Verdis Musik „recht veraltet“. Auch außerhalb des Hauses leistete der Choreograf Bemerkenswertes: 1897 stellte er für das Prater-Unternehmen „Venedig in Wien“ ein Tanzdivertissement, 1899 studierte er Hassreiters „Die Braut von Korea“ in Hamburg ein, 1900 brachte er für eine Wohltätigkeitsveranstaltung im Ronacher die von ihm erfundene Pantomime „Pierrots Neujahrstraum“ (Musik: Bayer, Josef Hellmesberger) heraus, die von Eleven des Hofopernballetts „mit Verve“ gespielt und getanzt wurde. Hervorzuheben ist die Arbeit für das Deutsche Volkstheater 1902. Für die deutschsprachige Erstaufführung von Henrik Ibsens „Peer Gynt“ choreografierte er dort Anitras Tanz für das ehemalige Hofopernballettmitglied Jenny Reingruber. Wiederholt besorgte er im Burgtheater Tanzeinstudierungen, erstmals 1906 für Johann Wolfgang von Goethes „Faust“, I. Teil. Höhepunkt in der „Hierarchie“ dieser Aufgaben war zweifellos die Einstudierung des von Erzherzogin Marie Valerie verfassten Tanzspiels „Die Huldigung der Alpenblumen“, das 1910 von den neun Kindern der Autorin anlässlich des 80. Geburtstages ihres Großvaters Kaiser Franz Joseph in der Kaiservilla in Bad Ischl dargeboten wurde. Die Kostüme entwarf der Maler Peter van Hamme, ein Sohn des Choreografen, die Musik stammte von „Wiener Meistern“. Eduard van Hamme, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum als Solotänzer der Hofoper und zugleich sein 40jähriges Berufsjubiläum feierte, wurde nicht zuletzt für seine Verdienste bei Hofe mit dem Goldenen Verdienstkreuz mit der Krone ausgezeichnet. 

Zur Sprache kam bereits van Hammes bedeutende Lehrtätigkeit in der Ballettschule der k. k. Hofoper, die bis 1919, also insgesamt 30 Jahre, andauern sollte. Zunächst war ihm die 1. Klasse anvertraut worden, die sich über mehrere Jahre (bis zu drei) erstreckte, ab dem Schuljahr 1892/93 war er Lehrer der 2. Klasse (als Nachfolger von Caron), ab 1899 unterrichtete er die 3. Klasse in Vertretung Hassreiters, dazu weiterhin die 2. Klasse, ab 1917 dann die 3. und letzte Klasse. Auch diese Klassen waren über mehrere Jahre angesetzt, jede Klasse wurde mit einer Prüfung abgeschlossen. Dazu kam 1893–1919 das Konservatorium (ab 1909 k. k. Akademie, heute mdw), wo er als Nachfolger von Price Tanz und Mimik vermittelte. Überdies unterhielt er verschiedene private Tanzinstitute. Zu jenem im Wagnersaal des Musikvereinsgebäudes (1921 wurde es von der ehemaligen Hofopern-Mimikerin Helene Krauss, der Tante von Clemens Krauss, übernommen) kamen die bis in die Mitte der 1920er-Jahre existierenden Institute „Van Hamme“ in der Eschenbachgasse und im Palais Fürstenberg. Zusätzlich unterrichtete er im k. k. Theresianum.

Voitus van Hamme, der am 17. Februar 1921 in Wien starb, war mit der 1858 in Kopenhagen geborenen Tänzerin Lucia Schultze verheiratet, die 1916 in Wien verstarb. Der jüngste der fünf Söhne, der 1891 in Wien geborene Johannes van Hamme, schlug die Theaterlaufbahn ein. Der Sänger, Schauspieler und Regisseur war 1945/46 und 1947–49 Intendant des Salzburger Landestheaters. Er starb 1964 in Baden-Baden. 

21 Hamme WiesenthalEine von van Hammes Schülerinnen an der Hofoper war Grete Wiesenthal gewesen. Sie schreibt in ihrem 1919 in Berlin erschienenen Buch „Der Aufstieg“ über ihren Lehrer: „Ich war nun fast schon zwei Jahre in der 2. Klasse der Ballettschule. Hier war das Studieren voll Leben, nie langweilig, da Professor van Hamme seinen Beruf mit Eifer und Interesse ausübte. Er war Solotänzer und Mimiker, in den Balletts viel beschäftigt und hatte außerdem im Privatleben eine Unmenge von Tanzstunden. Ich glaube, der größte Teil der Aristokratie hatte seine Tanzkenntnisse bei ihm gewonnen. Auch im Konservatorium und Theresianum war er Professor für Tanz und Anstand. Er selbst zeichnete sich durch vollendeten Anstand aus, war von einer reizenden, graziösen, altfränkischen Höflichkeit, nie unbeherrscht und schlecht gelaunt in unserer Stunde, trotzdem er doch oft sehr müde und überanstrengt gewesen sein muss.“

Van Hamme war offenbar nicht nur ein „reizender“ und „höflicher“, sondern auch ein sehr guter Lehrer. Dies stellen die vielen ausgezeichneten TänzerInnen des Staatsopernballetts unter Beweis, die die Zwanziger- und Dreißigerjahre dominierten, darunter Gusti Pichler, Marie Buchinger, Adele Krausenecker, Hedy Pfundmayr, Maria Mindszenty, Riki Raab, Herma Berka, Risa Dirtl, Tilly Losch, Toni Birkmeyer, Willy, Rudi, Fritzi und Hedy Fränzl. Die Nachfolge van Hammes am (ehemaligen) Konservatorium trat übrigens 1920 eine einstige Privatschülerin seines Hofopern-Kollegen Godlewski an: Gertrud Bodenwieser. Ihr Schaffen markiert den Beginn einer neuen Epoche des Wiener Tanzes.

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