Hauptkategorie: Wiener Tanzgeschichten

01 Raymonda iconIn den mehr als hundert Jahren seiner Existenz nahm das Ballett „Raymonda“ zu Musik von Alexander Glasunow so manche Gestalt an. Diese war geformt von der Zeit, den verschiedenen ästhetischen Räumen mit ihren jeweils eigenen theaterpraktischen, soziokulturellen und politischen Gegebenheiten. Eine Konstante blieb: 1898 im Mariinski-Theater in St. Petersburg uraufgeführt, wurde das Ballett immer als der letzte Klassiker von Marius Petipa angesehen. In Rudolf Nurejews Fassung kehrt „Raymonda“ nach einer Absenz von 17 Jahren nun wieder in den Wiener Spielplan zurück.

Auf den ersten Blick meint man das höchst ambivalente Verhältnis Wiens zu Ballettklassikern leicht erklären zu können. „Raymonda“ etwa, das erst in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts in das Staatsopernrepertoire aufgenommen wurde, wäre dafür ein treffliches Beispiel. Zu nennen ist da zuallererst die Tatsache, dass Wien immer mehr Interesse für Interpreten aufbrachte als für Oper oder Ballett an sich, die soundsovielte Vorstellung von Gefeierten zu hören oder zu sehen, war immer begehrter als die erste Aufführung eines neuen Werks. Den Star Rudolf Nurejew einmal mehr zu erleben, war verlockender als das, was er auf die Bühne stellte. Und war dies – wie im Fall von „Raymonda“ – ein hier kaum bekannter Klassiker, so wurde auch dieser willkommen geheißen.02 Raymonda

Weitere Gründe für das ambivalente Klassikerverhältnis auszumachen, gestaltet sich da schon schwieriger und macht es nötig, in die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu gehen. Das Interesse der Opernhäuser lag zu dieser Zeit auf der Kreation, wobei es als dringlich angesehen wurde, anderswo uraufgeführte Novitäten möglichst rasch auf die eigene Bühne zu bringen. Die Schnelligkeit mit der dies – bedenkt man damalige Kommunikations- und Verkehrsmittel – geschah, verblüfft immer wieder. Dies änderte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich, denn man begann – verbunden mit der Idee einer unverwechselbaren, nationalen Identität –, ein eigenes Repertoire aufzubauen. Der Zusammenbruch der alten Ordnung änderte daran (fast) nichts, wohl aber die Etablierung einer neuen Tanzästhetik.

03 RaymondaDass Wien nun, was Klassikerpflege betrifft, keinen besonderen Platz einzunehmen trachtete, hatte weniger mit desinteressierten Operndirektoren oder etwaigen Vorlieben jeweiliger Ballettmeister zu tun, als vielmehr mit dem Stellenwert des klassischen Tanzes nach 1900 im mitteleuropäischen Raum. Zur neuen Ästhetik des Modernen Tanzes gehörte es nämlich, Ballett als aussagelose „Unterhaltung“, als nicht ernstzunehmendes Konstrukt anzusehen, das es als Inkarnation von Künstlichkeit zu verachten galt. Das so entstandene Klima ließ in keinem Opernhaus den Wunsch aufkommen, ein Ballettrepertoire zu bilden. 04 Raymonda

Es bedurfte schon einer solchen Persönlichkeit wie Richard Strauss, um erfolgreich dagegen anzukämpfen. Die verheerende ökonomische Situation, die einen Abbau großer Ballettensembles mit sich brachte, tat ein Übriges. Doch zu behaupten, in Wien wäre in den Zwanziger- und Dreißigerjahren bewusst Klassikerpflege unterlassen worden, wäre falsch. Richtig ist vielmehr, dass man Klassiker – trotz so manchem Gastspiel – gar nicht wahrnahm. (Anna Pawlowa zeigte 1927 mit ihrer eigenen Truppe in der Volksoper den Grand Pas classique hongrois aus „Raymonda“, nachdem sie bereits 1909 in der Hofoper eine Nummer aus dem Ballett getanzt hatte. Das komplette Werk wurde erst 1969 in der Fassung von Konstantin Sergejew bei einem Gastspiel des Kirow-Balletts im Theater an der Wien gegeben.)

05 RaymondaDie ästhetische Entfernung Wiens zu Russland und damit zur Heimat der Klassiker wuchs. War Wien einst Gastspiel- und Ruheort von internationalen Künstlern auf dem Weg nach dem Zarenreich gewesen, hatte die Sowjetunion sich zu Beginn der Zwanzigerjahre derart weit von Mitteleuropa abgesetzt, dass es keine gemeinsame Sprache mehr gab, nicht einmal die des Balletts. Wie aber kam es zu den „Raymonda“-Transformationen, wie gelangte das Werk in den Westen, wie hat es sich dabei gewandelt, und was geschah mit ihm in der Sowjetunion?

I. Von Russland in die Sowjetunion – durchdachte Bedeutung wird von großer Pose abgelöst

06 RaymondaDie Hoffnung, die russisch/sowjetische Tanzavantgarde könnte im neuen gesellschaftlichen System in Petrograd beziehungsweise Leningrad tatsächlich auf breitere Zustimmung stoßen, war schnell ausgeträumt. Wer gedacht hatte, dass das dem Zarenhof so nahestehende Ballett nun in Ungnade gefallen wäre, der irrte. Neue Hierarchien, an deren Spitze einmal mehr das Ballett gebunden wurde, etablierten sich schnell. Die Evaluierung des Existierenden begann, ein Verbot traf die noch heute vielbeachtete Avantgarde, „Raymonda“ hingegen wurde als „ideologisch annehmbar und ohne Einschränkungen gestattet“ eingestuft. Diese Beurteilung gibt die Evaluierungskriterien preis, diese beschränkten sich offenbar allein auf eine höchst oberflächliche Lektüre des Librettos. Aus ihrem Umraum gehoben, hätte nämlich auch aus der „Raymonda“-Geschichte ein nicht parteikonformer Gegenwartsbezug herausgelesen werden können. Ummantelt von genre- und zeitspezifischen Gegebenheiten, steht, wie in allen Klassikern, auch hier ein „ewiges“ Thema zur Diskussion. „Raymonda“ hat die nicht nur für Russland so bedeutende Bedrohung aus dem (nichtchristlichen) „Morgenland“ zum Inhalt. In der Folge eliminierte die junge Sowjetunion Schritt für Schritt jene – nunmehr als unglaubhaft angesehenen – romantischen Kräfte, die jedoch die Handlung in Gang setzen. Uninteressiert an einer Logik der Erzählung, lag das Augenmerk der Aufführungen zunehmend auf dem Tanz allein, wobei in allen Tänzerfächern das nuancierte Detail zu Gunsten größerer Pose und einer spektakulären Virtuosität aufgegeben wurde.07 Raymonda
 
Wie nuanciert Petipa gearbeitet hatte, sei an dem berühmten Solo der Raymonda im III. Akt dargelegt: Das Schrittmaterial des Solos ist denkbar einfach, es besteht fast ausschließlich aus Pas de bourrée, der auf Spitze ausgeführt wird. Dieser meint hier nicht bloßen Ortswechsel, die besondere Qualität liegt vielmehr im Gleiten über den Boden, das vom ausgleichenden Kräftespiel zwischen dem Vorwärtsstreben, aber gleichzeitig zurückbleibenden Verharren des Körper bestimmt wird. Dieser Akzent drückt genau das Thema des Solos aus, denn Raymonda macht so jene aufgekeimte Sinnlichkeit sichtbar, die sie aus der im Unterbewusstsein wahrscheinlich gewünschten, jedoch nicht stattgefundenen Vereinigung mit Abderachman erfahren hat. Andere tänzerische Akzente, die diese Gefühle Raymondas sichtbar machen, kommen hinzu. Zu den – stilisierten – Klängen eines Csárdás, dessen erotischer „Glanz“ von Glasunow durch die Verwendung eines Klaviers intensiviert wird, tanzt Raymonda stilisiertes ungarisches Volkstanzmaterial, das durch seitliche Wendungen des Körpers, sowie Kopf- und Schulterhaltungen, aber auch durch ein zuweilen angedeutetes, zuweilen tatsächlich ausgeführtes Klatschen der Hände gekennzeichnet ist. Weitere Farbe erhält das Solo durch die weit ausgebreiteten – das heißt also nichtklassischen – Arme sowie durch den ständig unterbrochenen Fluss der Bewegung, der, oft fast bis zum Stillstand gestoppt, immer wieder neu in Gang gesetzt wird. Dazu kommt ein gleitendes „Vor“ und „Zurück“, wobei das wiederholte Vor als ein beinahe unschickliches Anbieten, das Zurück als ein Verweigern, aber auch ein Sich-Fallenlassen gedeutet werden kann. Diese Bewegungsfolge erinnert – dies wird mit einer Geste des Verdeckens des Gesichts angedeutet – an das Spiel der Ver- und Entschleierns, das in Anspielung auf die Herkunft des „Sarazenen“ eingeführt wurde. Die Erinnerung an den Morgenländer lässt Raymonda schließlich die ihrem Stande gemäße Noblesse völlig vergessen, den sie schließt ihre Variation mit einem, dem Volkstanz entnommenen, völlig unangemessenen schnellen Wechsel der Füße ab, den sie noch dazu auf Spitze ausführt. Heute meist als Bravoursolo präsentiert, ist der eher kontemplative Aspekt dieses Raymonda-Solos meist verloren gegangen.

II. Von Petrograd nach New York – Ballerinenglanz und verdichtete Bewegung

08 RaymondaAls George Balanchine Ende 1924 in den Westen kommt, trägt er so manches Gepäck mit sich. Trotz seines jugendlichen Alters – er ist 20 Jahre alt – hat er nicht nur einige Erfahrung als Tänzer des großen Mariinski-Ballettensembles, sondern auch als Choreograph für eine kleine Truppe, die sich „Junges Ballett“ nennt. Als Balanchine in Deutschland, London und schließlich bei den Ballets Russes Arbeit findet, sieht er sich mit völlig anderen Produktionsbedingungen konfrontiert. Er hat extrem rasch, genremäßig völlig verschieden, vor allem aber für ein nicht subventioniertes Theater zu arbeiten. Das bedeutet, sowohl was Anlage, Dramaturgie und Bewegungskonzeption betrifft, schnell auf den Punkt kommen zu müssen und diesen ebenso schlüssig wie rasch wieder aufzulösen. Mit seinen so divergierenden Erfahrungen – dem großen Repertoire eines institutionalisierten Theaters, den dazugehörigen Arbeitsbedingungen, den bereits von ihm kreierten Veränderungen, dazu den Zwängen des commercial theatre – kommt Balanchine Anfang der Dreißigerjahre nach Amerika, ein Land, das klassisches Ballett bislang im Grunde nur von Gastspielen her kennt. Zu diesen (meist russischen) Gastspielensembles, die schließlich nicht nur heimisch werden, sondern die bis heute gültige amerikanische Ballettästhetik bestimmen, gehört auch das Ballet Russe de Monte Carlo. Dieses Ensemble wagt es, 1946 mit „Raymonda“ ein mehraktiges Handlungsballett herauszubringen. Die Rechnung müsste, so meint man, aufgehen, denn man hat mit Alexandra Danilova nicht nur eine Starballerina, sondern auch eine „alte“ Mitstreiterin des Choreographen Balanchine an der Hand. Mit dem amerikanischen „Markt“ mittlerweile vertraut, strafft Balanchine die Handlung des Balletts und konzentriert sich ganz auf den Glanz der Ballerinenrolle und die reiche Diversität der Charaktertänze. Der Plan misslingt. Nicht willens, sich auf eine Geschichte einzulassen, die noch dazu in einem märchenhaften Mittelalter angesiedelt ist, wird die Produktion kein Erfolg. (Es ist ein interessanter Nebenaspekt der Rezeption, dass sich gerade europastämmige oder in Europa ausgebildete Kritiker für diese „Raymonda“ einsetzten.)

Nach weiteren Kürzungen nimmt man „Raymonda“ vorerst vom Spielplan, die Zeit für das Ballett werde, so meint man, in Amerika erst kommen. Nicht zuletzt der von ihm so geliebten Musik von Glasunow wegen, bringt Balanchine in den folgenden Jahrzehnten weitere „Raymonda“-Versuche heraus, diesmal zusammen mit seinem „Dramaturgen“ Lincoln Kirstein und für das „eigene“ Ensemble, das, nach immer wieder neuen Formationen, sich schließlich als New York City Ballet etabliert. Obwohl „Raymonda“ im Repertoire dieser Kompanie nur mehr in Ausschnitten getanzt wird, werden diese als bewusster Dialog mit dem Erbe Petipas angesehen, wobei es Balanchine gelingt, den Grundtenor des Balletts zu bewahren. Gelernt, Essenzen aus ihrem Umraum zu schälen, vermag es Balanchine, jenes „Ethos der Ritterlichkeit“ auf die Bühne zu bringen, von dem das Werk Petipas getragen war. Erst mit Nurejews „Raymonda“-Version, die 1975 beim American Ballet Theatre heraus kommt, ist das amerikanische Publikum bereit, sich mit einer abendfüllenden Version des Balletts auseinanderzusetzen.

III. Von Leningrad nach London – wiederhergestellte Balance und nuancierte Tänzerfächer

09 RaymondaAuch Nurejews „Raymonda“ ist als Dialogresultat anzusehen, die 1964 für das Royal Ballet entstandene Auseinandersetzung mit seinem – dem sowjetischen – Erbe, fällt kritisch und kämpferisch aus. Zunächst galt es, wieder ein logisch gebautes Libretto herzustellen, sowie, damit einhergehend, einen ausgewogenen Szenenablauf zu schaffen. Statt tänzerische Highlights aneinanderzureihen, sollte sich Tanz aus dem Handlungsverlauf ergeben, der wieder als mimische Aktion – auch die mimischen Passagen waren in der Sowjetunion fallen gelassen worden – dargeboten wurde. Dieses Bestreben Nurejews sollte sich als längerer Prozess erweisen. Nach einer Einstudierungen 1965 für das Australian Ballet, brachte er 1972 für Zürich (und danach für das American Ballet Theatre) eine neue psychologische Sicht des Librettos auf die Bühne: Raymondas Gefühle vor ihrer Hochzeit werden in einem Traum offenbar. Die beiden männlichen Charaktere des Balletts, der Ritter Jean de Brienne und der Sarazenenfürst Abderachman, präsentieren sich als Personifikationen verschiedener Facetten der Liebe: Jean, ritterlich nobel, Abderachman wild und sinnlich. Obwohl Raymonda, durch ihren Stand und die dazugehörigen Sitten Abderachmans Avancen mit Schrecken zurückweist, muss sie sich eingestehen, dass das Werben des Fremden sie nicht unberührt lässt.10 Raymonda

Diese Version kam, erneut überarbeitet, 1983 an der Pariser Oper, 1985 an der Wiener Staatsoper heraus. Nurejews Fassung präsentierte sich nun als wohl ausbalanciertes Ganzes mit bedeutenden Besonderheiten. Dazu gehört vor allem die ebenso reiche wie nuancierte Abfolge von klassischem, Halbcharakter- und Charaktertanz. Dazu gehört aber auch die Tatsache, dass einige Soli der Heldin keine nach außen gerichtete Bravourstücke, sondern Meditationen sind, in denen sie versucht, Ordnung in ihre Gefühlsverwirrungen zu bringen. Dass sich Raymonda dabei durchaus auch Hilfsmittel bedient, zeigt der Tanz mit dem Schal, der als Band zu ihrem nicht anwesenden Verlobten zu sehen ist. Auch gestärkt durch ihre Freundinnen und Freunde, die Raymonda nicht nur dekorativer Rahmen sind, sondern sie gleichsam durch eigenen Körpereinsatz vor dem Sarazenen schützen, findet sie den Weg, der ihr vorgegeben ist.

IV. Wiener Pflege eines großen Erbes

11 RaymondaHeute kann man feststellen, dass die ambivalente Wiener Klassiker-Rezeption, von der eingangs die Rede war, spätestens seit den Produktionen der Petipa-Ballette durch Nurejew einer breiten Akzeptanz Platz gemacht hat. Manuel Legris, der gleichsam als ein künstlerischer „Nachlassverwalter“ nun Nurejews Edition der „Raymonda“ zurück an die Wiener Staatsoper bringt, steht schon durch seine tänzerische Karriere nicht nur mit der Pariser, sondern auch mit der Wiener Aufführungsgeschichte dieses Werks in enger Verbindung. Im Alter von zwanzig Jahren gastierte er 1985 nicht nur zwei Mal als Béranger, sondern auch schon in der Rolle des Jean de Brienne. 1989 – mittlerweile zum Danseur Étoile des Balletts der Pariser Opéra aufgestiegen (seine Ernennung war 1986 just nach einer „Raymonda“-Vorstellung an der New Yorker Met erfolgt) – tanzte er weitere vier Mal die männliche Hauptpartie, zehn Jahre später war er in der „Saisonschluss-Gala 1999“ im Grand Pas classique hongrois zu sehen. Als Direktor des Wiener Staatsballetts brachte Legris seit 2011 mehrmals schon bei „Nurejew Galas“ (Pas de six, Adagio, kompletter III. Akt und Valse fantastique) sowie bei „Junge Talente des Wiener Staatsballetts“ (Grand Pas classique hongrois) Fragmente des Werks zur Aufführung.12 Raymonda

P.S.
Jene Ballerina – Vera Karalli –, die als erste die Raymonda in Westeuropa vorstellte – es geschah dies in der legendären ersten Aufführung der Ballets Russes 1909 in Paris, an deren Ende Sergei Diaghilew den Grand Pas classique hongrois präsentierte –, ist nicht vergessen. In schöner Regelmäßigkeit pilgern Bewunderer aus Russland, Amerika, Japan oder Deutschland an ihr Grab am Wiener Zentralfriedhof. Die auch als Stummfilmstar gefeierte Ballerina hatte seit den Fünfzigerjahren in Wien gelebt und ihren Lebensabend im Künstlerheim in Baden verbracht.

Wiener Staatsballett "Raymonda", Neueinstudierung am 22. Dezember 2016 in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 26. (nachmittags und abends), 27., 30. Dezember 2016 sowie 3. und 8. Jänner 2017