Hauptkategorie: Wiener Tanzgeschichten

7 korsar iconDie Behauptung, John Crankos Ballett „Onegin“, das das Wiener Staatsballett im Februar und März 2016 tanzte, hätte auf die große Märzpremiere – „Le Corsaire“ – vorbereitet, würde wohl einigermaßen überraschen. Eine Verbindung zwischen den beiden Werken existiert aber tatsächlich: Der Autor des Buches, das Tatjana beim Öffnen des Vorhangs liest, ist nach Puschkin Lord Byron! Und schnell wird klar, dass beide Herren, Onegin wie auch der Korsar Konrad, freilich unterschiedlich nuanciert, als „homme fatal“ ähnlichen Charakters sind.

Die Opern- und Ballettbühne kennt diese Herren – diese hommes fatals – zur Genüge, über einen längeren Zeitraum hinweg waren sie die bevorzugten „Helden“, Robert (in Giacomo Meyerbeers „Robert le diable“) ist wohl der berühmteste, James (in Filippo Taglionis „La Sylphide“) sein sehr viel schwächerer Bruder. Robert und James gemeinsam ist nicht nur das Dämonisch-Düstere, Geheimnisvolle, sondern auch der sehr distinkt gezeichnete Umraum, in dem sie agieren. Dies gilt auch für den Korsaren des Lord Byron, eines weiteren Bruders, der schon vor den Genannten in der gleichnamigen Dichtung („Gesänge“, wie der Autor sie nannte) auftauchte. 1814 erschienen, gerade wegen seines Anti-Helden nicht nur ungemein erfolgreich, sondern auch von größtem Einfluss auf weiteres künstlerisches Schaffen, geben Zeit, Umraum und Farbe dem Zwielichtigen, der in verschiedensten theatralischen Formen die Bühne des 19. Jahrhunderts betrat, seinen Charakter. Zwei Fakten verhalfen dem Buch zu weiterer Popularität: zum einen die Tatsache, dass der Verwegene durchaus auch weiche Seiten erkennen lässt und damit „unbestimmte Sehnsüchte“ besonders bei Leserinnen wachruft (zu diesen gehört eben auch Tatjana), zum anderen die Annahme, dass der europaweit bekannte Lord Byron mit dem Korsaren dem eigenen Ich huldigt.1 Korsar

„Kampf um des Kampfes wegen“

In der griechischen Inselwelt angesiedelt, spiegelt der Ort der Erzählung reale Geschehnisse wider, jene nämlich, mit denen Lord Byron selbst leidenschaftlich verbunden war: die griechischen Befreiungskriege vom Joch des Osmanischen Reichs. Dort, wo Lord Byron auch starb, herrscht der Korsar auf einem „Pirateneiland“ über eine von Stürmen durchwühlte See. Er denkt an seine wilde „Bande“, mit der er nur durch Befehle verbunden ist. Er spricht wenig, befielt: „Formiert euch! Marsch!“, handelt völlig selbstbestimmt, gibt vor, unerschütterliche politische Grundsätze zu haben, hisst rote Flaggen, wenn er in die See sticht. Seine Gabe ist „Herrscherkunst“, er ist ein „Mann des Dunkels und der Einsamkeit, der selten lächelt, selten zeigt ein Leid, deß Name schon die Wildesten erschreckt, mit bleichem Schein die braunste Wange deckt!“ Stirbt einer der Seinen, stirbt ein Feind mit. Der Korsar kämpft um des Kampfes willen. Er liebt auch und wird geliebt, von Medora und Gülnare. Dass er schließlich ins Nichts verschwindet – sein Tod wird nicht bestätigt – gibt der Erzählung eine weitere Dimension. Gerade mit diesem spurlosen Abgang hebt Lord Byron seinen Helden – oder sich selbst? – auf eine höhere Ebene. Aus Ort und Zeit herausgenommen, wird der Korsar zu einer „ewigen“ Figur, einem ewig Fahrenden, aus schierer Lust Kämpfenden.

Das kostbar gewebte Gewand, mit dem Lord Byron diesen (Männer-)Typus umhüllt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Held bloß seinen Trieben huldigt. Männer wie diese treiben auch heute ihr Unwesen. Sie formieren sich, um, mit dem Hinweis auf politische oder religiöse Gründe, ganz einfach die körperliche Betätigung des Kampfes auszuführen. Bertolt Brechts höhnische Abrechnung mit Typen ihres Genres, die, modifiziert, als „Korsaren wohnen, auf den Kanonen …“ wiedergegeben werden könnte, ist für diese Männer sicher ohne Belang; schon eher Brechts Schilderung eines Schiffs „mit acht Segel“ und, wichtiger noch, „fünfzig Kanonen an Bord“! Ein Sieg in dem herbeigesehnten Gemetzel ist also garantiert.

6 korsarBallett um seiner selbst willen

Handelt es sich also bei Lord Byrons Dichtung „Korsar“ (auch) um die Präsentation eines bestimmten (Männer-)Typs mit dem Autor selbst als dessen ersten Repräsentanten, so geht es der Kunstform Ballett zunächst um die Transformation einer literarischen Vorlage auf die Ballettbühne. Bald jedoch wechselt die Intention. Obwohl man – auch aus Gründen der Aktualität – die ungemein populäre literarische Vorlage weiter heranzieht, steht diese nicht mehr im Vordergrund. In den vielen choreographischen Fassungen des Stoffes, die sich europaweit über das ganze 19. Jahrhundert bis hin zu Marius Petipas letzter St. Petersburger Fassung von 1899 erstrecken, bildet Byrons Plot kaum mehr als Kolorit gebende Folie. Der wahre Inhalt des Balletts ist seine Selbstinszenierung, genauer die Präsentation jenes Typenkanons, den eine Korsaren-Geschichte bietet. Diese Typen, die je nach Ort in unterschiedlichen Ausprägungen gezeichnet wurden, sind: der zunächst eher zwielichtig gezeichnete Korsar, der gemäß des Handlungsortes in einer unbestimmten „Bewegungsfarbe“ auftritt (Tänzerfach: zunächst Mimiker, später ein zum Demi-caratère-Fach tendierender Danseur noble); an seiner Seite die Kameraden (Tänzerfächer: Demi-caractère und Caractère); dazu „Orientalen“, an erster Stelle der Pascha (Tänzerfach: Mimiker, erprobt in einem „exotischen“ Körpergestus); Medora (Tänzerfach: Erste Tänzerin des noblen Faches mit „exotischem“ Einschlag, dieser kann sich jedoch auf den Schnitt des Kostüms beschränken); Gülnare, ursprünglich wohl die weibliche Hauptpartie (Tänzerfach: Erste Tänzerin des noblen Faches mit Demi-caractère Einschlag, als Favoritin des Paschas wird sie sich „exotischer“ Bewegungsfloskeln bedienen, diese werden auf die Arme beschränkt sein). Das Corps de ballet besteht aus Piraten und Haremsdamen, beide werden eher durch Kostüme als durch Bewegungssprache gekennzeichnet sein. Im Laufe des Jahrhunderts wurde dem weiblichen Corps de ballet immer mehr Raum gegeben, bis ihm eine eigene Szene zugestanden wird. Dazu kommen genretypische Kostüme sowie typisierte Schauplätze: Küste eines fremden Landes, Grotte und Harem. Teil der Geschichte sind Szenen, die eine große Bühnenmaschinerie erfordern: das sind neben Sturm- und Feuerszene die „Schiffs(bruch)szene“, die mehr und mehr an Eigenleben gewann. Bei Joseph Maziliers Fassung von 1856 an der Pariser Oper, für die Adolphe Adam die Musik schrieb, wird der zuständige Maschinist bereits auf der Titelseite des Librettos genannt.5 korsar

An den Werkgestalten, die der „Korsar“ im 19. Jahrhundert annahm, kann abgelesen werden, wie sich Konzeptionen, Dramaturgien, Tänzerfächer sowie produktionstechnische Verfahrensweisen änderten, nationale stilistische Eigenheiten mitbestimmend waren. Die wichtigsten Stationen des „Ballett-Korsaren“ waren: Mailand, Wien, Paris, London, Berlin, St. Petersburg und Moskau. Wobei die angegebene Reihenfolge auch die jeweilige Wertschätzung der literarischen Vorlage widerspiegelt.

3 korsarUnd wieder Wien. Umschlagplatz von Fassungen und Stilen

In völliger Übereinstimmung mit den Freiheitsideen Lord Byrons, brachte Mailand – damals unter Habsburgerherrschaft stehend – den „Korsaren“ 1826, in zeitlicher Nähe zum Tod des Dichters (1824), in einer Fassung von Giovanni Galzerani auf die Bühne. Diese als „azione mimica“ bezeichnete Fassung hatte wohl als einzige im Sinn, Lord Byron Dichtung tatsächlich auf die Bühne bringen. Die Wiener Einstudierung des Balletts 1836 bestätigt dies, belegt zusätzlich zweierlei: Zum einen die Offenheit der Werkanlage an sich, zum anderen die rasante Entwicklung der Balletttechnik in diesen Jahren. Diese war es nämlich, die die beiden in den Zwanzigerjahren noch so unterschiedlichen Werkmodelle eines Handlungsballetts – das italienische und französische – aufweichte. War Galzeranis Fassung für Mailand noch ganz dem coreodramma Viganòscher Prägung, das heißt also dem dynamischen Konzept des Fortschreitens der mit großem Körpergestus vermittelten Handlung verpflichtet, aus der sich der inhaltlich bedingte Solotanz aus dem bewegten Corps de ballet herauslöste, so wurden bereits im Wiener Libretto zusätzlich „vorkommende Tänze“ angekündigt. Diese wurden von (brillanten) Tänzern ausgeführt, die weder mit der Personnage noch mit der Handlung des Balletts zu tun hatten. Damit aber kam es nicht nur zu einer Verwässerung der ursprünglichen – italienischen – Werksidee, sondern auch zu einer Annäherung an das französische Modell, auf dem die bis heute überlieferten „Korsar“-Fassungen beruhen.4 korsar

Ein „französisches“ Ballett war in Wien kurz vor der „Korsar“-Einstudierung zu sehen gewesen. Es handelte sich um die Erstaufführung von Filippo Taglionis „Sylphide“. Obwohl beide Werke der damals aktuellen „Schauerromantik“ verpflichtet sind, wird „Sylphide“ auch heute noch von dem Wechsel mimisch-dynamischer, daher fortschreitender Erzählung und tänzerischem Innehalten bestimmt. Ausführende waren dabei die Protagonisten selbst.

Wien wusste beides zu schätzen. Die „Theaterzeitung“ lobt Galzeranis fünfaktige „Mimische Darstellung“ „Der Korsar“, die fast ausschließlich von italienischen Kräften ausgeführt wird, als über alle Maßen gelungen. Der Korsar selbst ist „edel“, sein Mienenspiel „lebhaft“, seine Gebärde „männlich, kräftig, charakteristisch“, das heißt also „sprechend und erschütternd“, „der dramatische Effect“ überzeugend. Ihm zu Seite Gülnare. „Graziös“ wie „deutlich“ verstünde sie es, über die höchste Aufregung „den Reiz der anmutsvollen Weiblichkeit zu gießen.“ Ihr Körper bewege sich immer geformt aber doch „natürlich“. Das Corps de ballet zeige „vollkommene Bilder“, die Maschinerie und Bühneneffekte (etwa: der Brand der Flotte) sowie die Beleuchtung (etwa im Serail) „erregte allgemein Sensation“.
 
2 korsarDas nächste Korsaren-Ballett, das Wien zu sehen bekam, war Paul Taglionis „Der Seeräuber“. Das Ballett variierte in der Anlage jene Fassungen des Stoffes, die bis dahin entstanden waren (Louis Henrys „L’Ile des pirates“ mit Fanny Elßler, Paris 1835; Alberts „Le Corsaire“, London 1837), hatte aber auch andere Intentionen. 1838 in Berlin uraufgeführt und 1854 in Wien gegeben, zeigt „Der Seeräuber“ eine französische Werkanlage, die zweierlei Aspekte betont: einen noch größerer Einsatz von Bühneneffekten, dazu eine größere, allein dem weiblichen Corps de ballet vorbehaltene Szene. Beides ist in den Fassungen von Mazilier und Petipa wiederzufinden.

Paul Taglionis groß angelegter „Seeräuber“ verblüffte auch Wien. Feuersbrunst und Explosion, „malerische Attitüden“ des Corps de ballet, sowie eine tänzerisch wie mimisch virtuose Solistin (Paul Taglionis Tochter Marie) verzückten sogar die „anwesenden Majestäten“. Wahrscheinlich war es auch Paul Taglionis bis in die Siebzigerjahre andauernde Vormachtstellung in Mitteleuropa – diese betraf Berlin, Wien und Mailand –, die eine Begegnung zwischen Wien und Maziliers Pariser „Corsaire“ verhinderte. In Russland aber wurde Maziliers Ballett zur Grundlage von Petipas Fassungen.2a korsar

Die von Petipa selbst oftmals überarbeitete Sicht von Lord Byrons Werk (erstmals hatte er das Ballett 1863 herausgebracht) ist wiederum jene Basis, von der Manuel Legris in seiner Einstudierung ausgeht. Angesichts der so verwirrenden Anzahl von Fassungen, Überlieferung, von Traditionen, von Be- und Umarbeitungen von „Le Corsaire“, wie das Ballett auch in Russland genannt wurde, ist es nur zu verständlich, dass Manuel Legris, wie er dies in einem Interview – „dancer’s“ (1/2016) – äußerte, seinen eigenen Weg zu gehen wünscht. „Ich gestalte keine historische Rekonstruktion, sondern meine eigene Vision: wie ich ein klassisches Ballett sehe und mir dieses Ballett heute vorstellen kann.“ Und weiter: „Ich werde einige Elemente und Variationen von Petipa, die nicht verschwinden dürfen, da sie den Duft, die Basis und die Geschichte dieses Balletts repräsentieren, in meiner Version behalten.“

Wiener Staatsballett: "Le Corsaire" von Manuel Legris hat am 20. März 2016 Premiere an der Wiener Staatsoper