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RB DVDDer Teufel steckt – sprichwörtlich – im Detail. Was vor kurzem noch niemand für möglich hielt, passiert: Der winzige Krankmacher-Fiesling SARS-CoV-2 hebt gerade die gesamte globalisierte Welt aus den Angeln. Plötzlich läuft nichts mehr in gewohnten Bahnen. Ein Flickenteppich des Stillstands breitet sich aus. Für wie lange bleibt erstmal ungewiss.

Dass die verordnete Auszeit im Kulturbetrieb kein Kreationskiller ist, stellt die Findigkeit Kunstschaffender unter Beweis, die nun in täglich wachsender Zahl eine Präsenz via digitaler Portale und Formate beizubehalten suchen. Und damit auch die Kritiker vor neue Herausforderungen stellen. Ist bei der Einschätzung und Bewertung doch das analoge Live-Wahrnehmen stets eine wichtige Komponente. Außer man beschäftigt sich mit den sorgfaltsvoll für den Hausgebrauch auf Silberscheiben gepressten Produkten CD oder DVD. Sie können Zuschauern im unüberschaubaren Online-Wirrwarr brisanter, toller, guter, mittelmäßiger und bloß zeitfressender Beiträge wie ein verlässlicher Anker vor dem Fischen oder gar Versinken im Trüben bewahren.

Längst haben sich Live-Übertragungen von Opern- und Ballettaufführungen renommierter Häuser wie der Metropolitan Opera New York, des Bolschoi-Theaters Moskau, und des Royal Opera House London etabliert. Als internationale Ergänzung heimischer Theaterinstitutionen – ausgestrahlt in eigens digital aufgerüsteten Kinosälen. Aber auch hier hat letztlich die Schließung aufgrund der Corona-Pandemie zugeschlagen. Ohne Option auf eine baldige Rückkehr zur Normalität im Fall der Met, die kürzlich sogar das vorzeitige Ende ihrer Saison 2019/2020 verkündet hat.

Aktuell sind Tanzkompanien wie das Royal Ballet, das bereits seit Jahren regelmäßig Meisterwerke seines Repertoires auf käuflichen Datenträgern konserviert, jedenfalls klar im Vorteil. So können spontan ältere, momentan nicht auf dem Spielplan stehende Werkkaliber wie Arthur Pitas abgründige, unter Verwendung von unglaublich viel Sirup eklig-geniale Tanzadaption von Franz Kafkas „Die Verwandlung“ für ein Streaming aus der Schublade geholt werden. Unbedingt sehenswert: „The Metamorphoses“, kostenfrei abrufbar über die Website des Royal Opera House am 17. April, 19 Uhr Londoner Ortszeit.

Kein Wunder, dass Zelensky große Stücke auf das von Kevin O’Hare vorbildlich durch Klassik und Moderne geführte Ensemble hält und künstlerisch engen Kontakt pflegt. 2015 brachte Wayne McGregor dort sein Triptychon „Woolf Works“ (Musik: Max Richter) heraus. Drei bildstarke Stücke voll choreografischer Rasanz, die inhaltlich auf die beliebtesten Romane der Autorin verweisen: „Mrs. Dalloway“, „Orlando“ und „Die Wellen“. Die perfekte Ergänzung für daheim, wenn das Bayerische Staatsballett ab 10. April noch einmal seinen zeitgenössischen Abend „Portrait Wayne McGregor” als Video-on-demand Revue passieren lässt.

Im Gegensatz dazu bot der digitale Spielplan der Staatsoper Unter den Linden bislang nur Patrice Barts „Nussknacker“- und „Schwanensee“-Aufzeichnungen aus dem Jahr 1999 – damals noch mit dem Ballett der Staatsoper Berlin, aus dem im Zusammenschluss mit den Ensembles der Deutschen und der Komischen Oper Berlin 2004 das Staatsballett Berlin hervorging. Tatsächlich war ab Mitte März die Wiederaufnahme eben dieser „Schwanensee“-Fassung geplant. Sie wurde – genau wie die Wiederaufnahme von Ray Barras Version beim Bayerischen Staatballett – kurz vor der Premiere situationsbedingt ausgesetzt.

Das Wiener Staatsballett übertrug über die Streaming-Plattform der Wiener Staatsoper Anfang April „Peer Gynt“ in der Choreografie von Edward Clug. Weitere Termine sind: „Schwanensee“ am 14. April, „Der Nussknacker“ am 18. April und „Le Corsaire“ am 29. April.

StuttgartBallet@Home präsentiert Highlights der Saison 24 Stunden on demand. Erst kredenzte man den Ballettfans online gratis den Mitschnitt der letztjährigen Neueinstudierung von Marcia Haydées sehenswertem „Dornröschen“ – in Top-Besetzung mit Friedemann Vogel und Elisa Badenes – allein die schon lohnte den Zeiteinsatz! Als empfehlenswerte Ergänzung – oder einfach, weil es um einen der besten Tänzer Deutschlands geht – bietet sich die Erstausstrahlung des Dokumentarfilms „Friedemann Vogel – Verkörperung des Tanzes“ am 10. April, um 14 Uhr im SWR an (Wiederholung: 4.7., 22:55 auf 3sat). Der Diplom-Abschlussfilm von Katja Trautwein wird anschließend ein Jahr lang unter ARDmediathek.de zu sehen sein.

Für alle Repertoirefreaks, die John Crankos Abendfüller vermissen: „Romeo und Julia“ sowie „Onegin“ hat das württembergische Spitzenensemble noch vor dem Intendantenwechsel in beispielhaften Besetzungen auf DVD (Unitel) vorgelegt. Auf die Verfilmung „Der Widerspenstigen Zähmung“ wird man nun aber wohl länger als geplant warten müssen. Vor Corona sollte Crankos Ballettkomödie nämlich am 1. April auf die Stuttgarter Bühne zurückkehren.

Opus Arte Cover SchwanenseeSchwerpunkt: Produktionen des Royal Ballet London der Saison 2018/2019 (alle DVDs: Opus Arte)

Ebenfalls am 1. April wollte das Royal Ballet seinen pompös-prunkvollen und zugleich konservativ-opulenten „Schwanensee“ in neuer Besetzung mit dem Publikum unzähliger Kinos weltweit teilen. Abgeblasen! Auch in London ruht das aktive Bühnenleben. Gerüchte um den talentierten Tanzschöpfer Liam Scarlett wegen „Me Too“-Vorwürfen gab es schon länger. Nach acht Jahren als Hauschoreograf ist er mittlerweile diesen lukrativen Job los. Auf DVD verbleiben die Eindrücke seiner vor technischen Herausforderungen an das pure Virtuosentum der Interpreten nur so strotzende Neukreation des Tschaikowsky-Klassikers aus dem Jahr 2018 (Opus Arte). Eine insbesondere vom Aspekt der Ausstattung her enorm aufwendige, ja regelrecht erschlagend schöne Produktion.

Auf inhaltlich neue Akzentsetzung wurde zwar weitgehend verzichtet, dafür in punkto technischer Details förmlich geklotzt – sowohl bei Dekor und Kostümen als auch choreografisch. Die offene Verwandlung vom platzeinnehmenden Schlossgartenbild des ersten zur Seewaldlichtung des zweiten Akts, während der heiratsunwillige Prinz Siegfried seinen Gedanken freien Lauf lassend im Vordergrund tanzt, besitzt Hollywood-Technicolor-Breitwand-Qualität im besten Sinn. Gewiss werden hier alle denkbaren identifikatorischen (Gefühls-)Ansprüche beim Zuschauer nicht bloß erfüllt, sondern womöglich übertroffen. Und das ist schon was – angesichts des spätromantischen, ohrwurmgeschwängerten Märchenplots.Opus Arte Cover Nussknacker

In den Hauptrollen bestechen Marianela Nuñez (Odette/Odile) und Vadim Muntagirov (Siegfried). Sie geben ein unübertrefflich brillantes Paar ab. Deshalb sollte man die Aufzeichnung von Peter Wrights „The Nutcracker“ von 2019 (Opus Arte) mit diesen beiden als Prinz und Zuckerfee gleich mitbestellen. Immerhin handelt es sich um eine der gelungensten klassischen Nussknacker-Adaptionen für Groß- und Klein, weil alles so herrlich altmodisch und fantastisch überzuckert daherkommt. Am stärksten jedoch berühren Nuñez und Muntagirov in Natalia Makarovas „La Bayadère“-Mitschnitt aus derselben Spielzeit. Wie ergreifend und mit welch zarter Entschlossenheit die herzhaft frische Primaballerina mit ihren 20 Jahren Bühnenerfahrung und Nonplusultra-Aura einem die tragische Liebesgeschichte der Tempeltänzerin Nikija nahebringt, ist – auch technisch – unfassbar.

Opus Arte Cover NataliaDie Rolle ihrer Kontrahentin Gamzatti füllt Natalia Osipova voll und ganz aus. Doch wer wissen will, auf was für ein kreatives Spektrum der Superstar auf Spitzen sich tatsächlich einlässt, dem sei das Porträt „Force of Nature. Natalia“ (Opus Arte) des Filmemachers Gerry Fox mit eindrücklichen Proben- und Vorstellungsbeispielen empfohlen. Es endet bei Sidi Larbi Cherkaoui, der mit Osipova in der Titelpartie sein einaktiges Ballett „Medusa“ zu elektronischer Musik und Arien von Henry Purcell realisierte. Das ungewöhnliche Stück findet sich in toto auf einer weiteren DVD des Royal Ballet. Bestens eingerahmt von „Within the golden hour“ – einer abstrakten Choreografie Christopher Wheeldons für sieben Paare, zu der ihn Gustav Klimt inspiriert hat – und „Flight Pattern“ von Crystal Pite. Die erste Uraufführung der Kanadierin für 36 Tänzer der Kompanie widmet sich dem Schicksal von Flüchtlingen und wurde 2018 zu Recht mit dem Olivier Awards ausgezeichnet.Opus Arte Cover Medusa

Opus Arte Cover MayerlingAlternativ zu Historien- oder Kostümfilmen können Tanzbegeisterte für lange Abende ohne reale Theaterbesuche außerdem auf zwei ebenfalls 2019 veröffentlichte Meisterwerke von Kenneth MacMillan zurückgreifen: „Mayerling“ mit Steven McRae als Kronprinz Rudolf und Sarah Lamb als Mary Vetsera. Leider in Nicholas Georgiadis’ alter, erdrückend opulenter Samt- und Plüschanmutung. Und die ist definitiv überholt, seit Jürgen Rose im Mai 2019 für die Stuttgarter Erstaufführung dieses Ballettdramas nach wahren Begebenheiten eine wunderbare szenische Rundumerneuerung glückte. Diese Vorstellung mit Friedemann Vogel in einer gänzlich eigenen Hauptrolleninterpretation am 11. April ab 18 Uhr noch einmal – wenn auch bloß aus der Konserve – rekapitulieren zu können, ist die Osterüberraschung schlechthin.Opus Arte Cover Manon

Last but not least mein aktuell persönlicher Sofa-Favorit: „Manon“ von Kenneth MacMillan. Live im Kino wurde man von Sarah Lambs und Vadim Muntagirovs überragender, sich bis zum Schluss kaum fassbar immer noch weiter steigernder Interpretation schier überwältigt. Tatsächlich funktioniert das auch nur zu zweit eine Nummer kleiner am eigenen PC.

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Tchaikovsky: Swan Lake [Marianela Nuñez; Vadim Muntagirov; Royal Opera House; Koen Kessels] [Opus Arte: OA1286D]

Natalia: Force Of Nature [The Royal Ballet; The Bolshoi Ballet; American Ballet Theatre; Judith Mackrell; Sarah Crompton; Kevin O'Hare CBE] [Opus Arte: OA1307D]

Within The Golden Hour [Beatriz Stix-Brunell; Francesca Hayward; Sarah Lamb; Royal Opera House; Jonathan Lo; Andrew Griffiths] [Opus Arte: OA1300D]

Liszt/McMillan: Mayerling [The Royal Ballet]

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