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BallettakademieIm Juni gehörten die Tanzbühnen den jungen TänzerInnen. Josette Baiz’ Groupe Grenade aus Südfrankreich zeigte in St. Pölten, wie man mit einer Jugendcompagnie eine authentische „Romeo und Julia“-Geschichte inszeniert. Davor präsentierte das Wiener Staatsballett seine „Jungen Talente“ an der Volksoper. Die Ballettakademie der Wiener Staatsoper gab im MuTh am Wochenende ihr Schulabschlussaufführung. Eine aufschlussreiche Serie über Tanzlust – und wie man sie killt.

Dass Tanz beim Zuschauer ankommt, hat auch mit den Spiegelneuronen zu tun. In unserem Geist tanzen wir mit, auch wenn wir bequem im Sessel sitzen. Und junge TänzerInnen verstehen diese Spiegelneuronen offenbar besonders gut zu stimulieren, sie sind mitreißend. Wenn sie ihre Energie einsetzen dürfen, dann gibt es kein Halten mehr. Dann sind sie risikofreudiger als so mancher Star der großen Bühnen. Diese besondere Qualität auf der Bühne einzusetzen gelingt etwa Josette Baïzmit ihrer Groupe Grenade immer wieder und wird auch von Top-Choreografen wie Angelin Preljocaj, Philippe Découflé oder Jean-Christophe Maillot geschätzt, die mit dem Jugendensemble gearbeitet haben. Weit ausholend nehmen sie den Raum ein, füllen die Bühne mit ihren virtuosen Moves, nützen den Boden als Trampolin, das sie gleichsam in lichte Höhen schleudert und landen von dort wieder fest auf beiden Beinen. Diese jungen TänzerInnen können aber auch eine saubere Arabeske halten, lyrische Momente verkörpern oder poetische Texte rezitieren. Ihre Physis ist unterschiedlich, es gibt eine Bandbreite an Körpertypen. Es ist egal, ob mehr oder weniger dünn, sie alle tanzen mit Freude und Hingabe und vor allem ohne Angst. Dieser vorbehaltlose Einsatz war auch die Stärke der „Jungen Talente des Wiener Staatsballetts“, die an ihrem Abend die Volksoper zum Kochen brachten.

Ebenso war sie erlebbar bei den SchülerInnen der Ballettakademie der Wiener Staatsoper – nämlich dann, wenn sie loslassen dürfen. Ewa wenn Sharon Booth für die 52 SchülerInnen der Oberstufe eine Choreografie entwickelt, bei der die jungen TänzerInnen ihre überbordende Tanzlust ausleben können. Natürlich müssen sie auch hier ihre Bewegungen kontrollieren, ihre Energie dosieren, aber innerhalb eines Rahmens, der ihrem Energielevel entspricht. Seltsamerweise war das Stück „Piecemeal“ aber das einzige im Programm, das der jugendlichen Tänzerenergie gerecht wurde.

Freilich, es geht in der Wiener Ballettakademie um den klassisch-akademischen Tanz und ich argumentiere hier keineswegs gegen das klassische Training, das im Mittelpunkt stehen muss. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, dass die klassischen Darbietungen bei den Schulaufführungen in den letzten Jahren immer wie Dressurakte aus der Sowjetära aussehen müssen, etwa in der Collage „Avant Scène“ (das man bereits in kürzerer Form bei der Weihnachtsmatinee in der Wiener Staatsoper serviert bekommen hatte). Verkrampft und eckig wird hier auf die exakte Position geachtet. Ängstlich scheinen die TänzerInnen bemüht, Fehler zu vermeiden. So wird Ballett zu Gymnastik – der Tanzfluss kann sich dabei nicht entfalten. Wer aber seine Energie dauernd im Zaum halten muss, um ja alles richtig zu machen, tanzt zwar brav, aber ohne Persönlichkeit, die mindestens ebenso entscheidend für den (späteren) Erfolg ist wie der saubere Abschluss einer Pirouette. Und diese sollte bereits in der Ausbildung gefördert werden. Oder? Statt dessen schleichen sich Manierismen ein: da zuckt der Kopf nach oben, schürzen sich die Lippen zu einer triumphierenden Geste, wenn eine Variation gut gelungen ist.

Bei der Ausbildung von BalletttänzerInnen wird weitläufig (und keineswegs nur in der Ballettakademie der Wiener Staatsoper) noch immer nach Methoden aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts vorgegangen. Irgendwie scheint die Ballettwelt resistent zu sein gegen neue Erkenntnisse sowohl in der Pädagogik als auch in der Sportmedizin. Es wird gedrillt statt vermittelt, dressiert statt zu motivieren.

Diese grobe Verallgemeinerung ist sicher ungerecht, und auch in der Ballettakademie unterstützen die LehrerInnen die Kinder wohl individuell und vielfältig. Bei der Abschlussaufführung war dafür etwa auch die Arbeit von Carole Alston mit der 1. und 2. Klasse ein Beispiel. Munter experimentierten die Kinder hier mit Bewegungsmaterial aus dem Afrodance („Primitive Truth“) oder in „Domino“ mit Wortspielen, Witz, Geschwindigkeit und komplexen Raumkonstellationen.

Würde man diese Entdeckungsfreude, den Energiepegel und den unbedingten Einsatz der jungen TänzerInnen auf allen Ebenen zulassen und auch den älteren Jahrgängen zugestehen, wären die Aufführungen der Ballettakademie vielleicht ebenso mitreißend wie jene der Groupe Grenade. Die klassische Balletttechnik steht dem nicht entgegen, wie es etwa der Nachwuchs des Staatsballetts demonstrierte. Selbst die streng klassischen Variationen tanzten die "jungen Talente" so lustvoll, dass die eine oder andere Ungenauigkeit gar nicht ins Gewicht fiel. Und auch bei den BallettschülerInnen mangelt es weder am Können noch an der Energie – if you give them a chance to dance. Und dafür, so denke ich, sollten die Abschlussaufführungen doch da sein.