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stellamannDer Film „Rhythm Is It!“ schien, trotz der Unglaublichkeit seines Unterfangens – er schildert den Versuch, 250 jugendliche Laien unterschiedlichster sozialer Schichten aus 25 Ländern zu einem Ensemble zu vereinigen – nicht wirklich verlockend. Der Grund für die zögerliche Haltung war die gewählte Musik. Wieder ein Choreograph, der sich an „Le Sacre du printemps“ wagt! Wieso gibt es denn immer wieder, so dachte man, Wahnsinnige, die sich an diesem Werk versuchen? Waren nicht schon zu viele – vielleicht Hunderte – daran gescheitert? Vorauseilendes Misstrauen, das sich aus langjähriger Erfahrung speist, zögerte den Besuch des Films über Gebühr hinaus, letztlich war das Sehen dann sogar Zufall. Dass dieser Besuch eine kostbare Bekanntschaft begründen sollte, war nicht zu ahnen. Der Film war eine Überraschung, sogar eine Offenbarung! Der Grund dafür war weniger der an sich überwältigende Inhalt – der „Sozial-Choreograph“ Royston Maldoom erarbeitet das Strawinski-Ballett, das schließlich, gespielt von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle, tatsächlich aufgeführt wird ¬–, sondern vielmehr choreographische Details. Was also den historisch interessierten Zuschauer weit mehr anzog als die wahrhaft bewunderungswürdige Geduld, mit der Maldoom mit den Jugendlichen arbeitete, waren Konfigurationen, die keiner heutigen, sondern einer anderen, in diesem Fall vollkommen überzeugenden Tanzästhetik geschuldet schienen. Der Engländer Maldoom verwendete offensichtlich choreographische Bausteine, die aus der Zeit des mitteleuropäischen Ausdruckstanzes, das heißt also, aus den zwanziger und dreißiger Jahren stammten! Und nicht nur dies, man meinte – gab es das wirklich? – ein „österreichisches“ oder sogar „Wiener“ choreographisches Idiom erkennen zu können. Arbeiten, die man nur von Photographien her kannte, schienen plötzlich verlebendigt. Werke berühmter Vertreter des Wiener Ausdruckstanzes, Stücke einer Gertrud Bodenwieser, einer Gertrud Kraus, beide der Tanzmoderne Wiens zugehörend, beide jüdischer Herkunft, hatte man plötzlich vor Augen. Bald war das Geheimnis gelüftet, die Vermutung bestätigt: Royston Maldoom hatte seine prägenden Lehrjahre bei der Wienerin Stella Mann verbracht, ihre Londoner Schule – die Stella Mann School of Dancing – war seine künstlerische Heimat. Natürlich wusste man von der Existenz dieser Schule, ein Institut, das Ballettkompanien europäischer Opernhäuser mit ihren Absolventen „belieferte“. Weniger im Bewusstsein aber war, dass dort das künstlerische Erbe der Gründerin und Leiterin Stella Mann noch dermaßen präsent war. Man stellte fest, dass man zwar ausgiebig in Australien und Israel recherchiert hatte, um jenen Spuren zu folgen, die etwa Bodenwieser oder Kraus in der Emigration gelegt hatten, dem Wirken von Stella Mann in ihrer neuen Heimat aber nicht eingehend genug nachgegangen war.

Schnell waren Erkundigungen eingeholt, das Erfreulichste war, Stella, die am 24. Jänner 1912 in Wien Geborene, lebt, sie kann in der Londoner Finchley Road jederzeit besucht werden! Dort fand man sie auch überaus lebendig, witzig, neugierig, voller Charme und Interesse an Allem, doch noch immer, und kaum verwunderlich, bitter über das Erlebte und Überstandene: zwar war ihr die Flucht aus Wien gelungen, die Eltern jedoch umgekommen, vielleicht in Auschwitz, vielleicht anderswo.

Stella Mann erzählt nicht von der Vergangenheit, sie weigert sich zudem, deutsch zu sprechen, auch Wien will sie nicht mehr wieder sehen.

Die Spuren, die Stella Mann in ihrer Heimatstadt hinterließ, sind schnell gefunden, die wichtigsten Stationen ihrer Tänzerkarriere sind bekannt: Dem wirbelnden Charakter und dem freien Gemüt entsprechend, hatte Stella Tanz studiert. Sie gehörte bereits einer zweiten Generation von modernen Wiener Tänzerinnen an und konnte sich daher jener Einrichtungen bedienen, die die Pionierinnen bereits erkämpft hatten. Die Ausbildung zur modernen Tänzerin erfolgte an der damals ersten Wiener Adresse, an der Akademie für Musik und darstellende Kunst bei Gertrud Bodenwieser. Rasch machte sie sich einen Namen, wurde Mitglied der Truppe von Gertrud Kraus, verfolgte dazu eine eigene Solokarriere. Dabei half die enorme Beliebtheit des nicht nur in Wien als Frauenkunst angesehenen modernen Tanzstils. Stella wird zu einer gesuchten Solistin, tritt in Volksbildungshäusern wie der Urania auf. Sie gründet eine eigene Schule in der Wipplingerstraße im ersten Wiener Gemeindebezirk, die Schule geht gut, Stella tanzt. Ein Höhepunkt ihrer Tänzerkarriere ist die Teilnahme am heute bereits legendären Dritten Deutschen Tänzerkongress in München 1930. Zum einen tritt sie dort als Mitglied der Tanzgruppe Gertrud Kraus in „Ghetto-Lieder“ auf, zum anderen tanzt sie solistisch beim Abend „Junge Tänzer“, der Talente des ganzen mitteleuropäischen Raums vorstellt. Schon in diesen ersten Jahren kristallisieren sich die besonderen Begabungen der Stella Mann heraus. Ausgangspunkt ist das hohe Niveau, das der Ausdruckstanz an sich vorgibt, das heißt, die Tanzabende sind keineswegs „bunt“, sondern nach einem Konzept und in „Suiten“ zusammengestellt, wobei es sowohl thematisch akzentuierte wie auch rein tänzerische Abfolgen gibt. Stellas eigene tänzerische Begabung liegt offensichtlich bei den Charakter- und Grotesktänzen, ihr „Spanischer Tanz“ etwa ist Höhepunkt jedes Programms. Die gewählte Musik der Programme ist erlesen, zu Corelli und Mozart kommen etwa Strawinski und Prokofjew. Auch in der Wahl der Ausstattung erweist sich ihre sichere Hand, die immer wieder akklamierten Kostüme stammen meist von der jungen Erni Kniepert. Sehr früh schon ist Stella Manns organisatorisches Talent zu erkennen, Mitte der dreißiger Jahre tritt sie bereits mit eigener Tanzgruppe sowie eigener Kindergruppe auf.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland ist der Wirkungsraum der österreichischen Tänzerinnen und Tänzer eingeschränkt, in Wien wächst die Unruhe, der Vater rät Stella, Wien zu verlassen. Sie zögert. Fast ein Jahr nach dem „Einmarsch“ der Nationalsozialisten in Österreich lässt sich Stella Mann von der Auswanderungsabteilung der Kultusgemeinde Wien ihr Künstlerleben bescheinigen.

Der frühere Generalsekretär des Deutschen Bühnenvereins in Berlin stellt ihr am 21. März 1939 eine Art Zeugnis aus, schreibt vom „eminenten Können als Tanzkünstlerin und als Lehrerin für Gymnastik und künstlerischen Tanz“. In dem Dokument ist weiter zu lesen: „Stella Mann, geb. Tuttman, ist als Tänzerin eine brillante Künstlerin, in der sich alle Elemente des Tanzes der Wienerin, der Spanierin, der Russin und der Orientalin zu vollendeten Tanzschöpfungen vereinigen. In ihren Tanz-Improvisationen, die zu den eigenartigsten Tanzdarbietungen zählen, versteht sie das dramatische Schauspiel des Entstehens von Tanzschöpfungen zu geben und damit gleichzeitig die Grundlage ihrer starken Befähigungen als Lehrerin ihrer Kunst aufzuweisen. Sie besaß in Wien lange Jahre eine Schule für Gymnastik, Heilgymnastik, Rhythmik und Tanz. Diese Schule hatte einen ausgezeichneten Ruf und ihre Leiterin einen überaus geachteten Namen, den sie durch Fleiß, pädagogische Qualitäten und Wissen erworben hat.“ Die Bescheinigung hilft in keinster Weise.

Die Gedanken an den erzwungenen Abgang aus Wien und die damit verbundenen Geschehnisse sind für Stella Mann auch heute noch unerträglich. Erst 2005 hält sie die Stationen dieses Fortgehens in ihrem Buch „Stella Mann. A Dance of Life“ fest.

Im April 1938 „besucht“ die Gestapo die Schule in der Wipplingerstraße. Stella wäscht den Gehsteig. Nachdem es getan ist, verschmutzt der Gestapo-Mann den Boden erneut. Sie bekommt die Möglichkeit, mit einem Teil der Bodenwieser-Truppe nach Australien zu fliehen, doch Stella ist für das Ensemble von zu kleiner Statur. Mit einem anderen Teil des Bodenwieser-Ensembles könnte sie nach Kolumbien gehen, doch ihr fehlt das von dem Staat zur Einreise gewünschte katholische Dokument. Ein weiteres Angebot aus Paris erreicht sie, doch dort müsste sie topless auftreten. Aus der Schweiz liegt ein Angebot vor, aber das Management weigert sich, Juden zu beschäftigen. Besonders schmerzhaft erweist sich das Nichtzustandekommen des nächsten Angebots. Die Neue Oper Tel Aviv will sie als Solistin, Lehrerin und Choreographin beschäftigen, doch die Aufenthaltsgenehmigung wird verweigert. Daraufhin rät man ihr, ein Visum nach Jugoslawien zu kaufen. Der dortige Aufenthalt endet mit einer Scheinehe, die sie zur Jugoslawin macht und damit vor neue Probleme stellt. Stella flüchtet schließlich in die Niederlande und weiter nach Belgien. Nach dem Einmarsch der Deutschen hält sie sich versteckt. Immer wieder muss sie den Unterschlupf wechseln. Sie ist ohne Kontakt zu den Eltern. Einmal gelingt es, eine Botschaft nach Hause zu senden: „Daughter Stella is well“, die Botschaft bleibt aber unbeantwortet. Die Eltern werden 1942 deportiert. Auch in Belgien steht die Gestapo vor der Tür und sucht nach Stella Mann. Schließlich findet sie in einem Waisenhaus freigelassener jüdischer Kinder Arbeit. Am 3. September 1944 befreien die Briten das Land.

1946 kommt Stella Mann nach England. Sie ist nun etwas über dreißig und beginnt erneut zu unterrichten. Das Wirken in der neuen Heimat kann als eine einzige Erfolgsstory bezeichnet werden. Sie gründet ihre Schule, die sich in der so reichen Londoner Tanzlandschaft rasch einen klingenden Namen machen kann. 1959 zieht man in die Finchley Road, 39 Jahre agiert man fortan erfolgreich an dieser Adresse.*

Wahrscheinlich liegt der große Erfolg der Schule darin, dass Stella Mann sich zwar an den Bühnenerfordernissen der Zeit orientiert, ihre eigene stilistische Vergangenheit dabei aber keineswegs negiert. Im Gegenteil. Das sicherlich herausragendste künstlerische Verdienst von Stella Mann ist es, die Errungenschaften des Ausdruckstanzes – die „Befreiung“ des Tänzerkörpers im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn, sowie die Formung dieses Körpers in Raum und Zeit –, die sie einst als Tänzerin vertreten hatte, als weitergebbares Material dermaßen in ihre Lehre eingebunden zu haben, dass sie von ihren Schülern als kompositorische Mittel aufgegriffen und verarbeitet werden können. Mit sicherem künstlerischen Instinkt arbeitete eine neue Generation, unter vielen anderen auch Royston Maldoom, mit diesen Mitteln und brachten sie in eine Form, die man nun „Community Dance“ nennt, in der Zwischenkriegszeit aber als „Laientanz“ bekannt und weit verbreitet war.

Während also Stella Mann in ihrer neuen Heimat eine feste Größe ist, erinnert man sich in ihrer alten Heimat erst nach mehr als einem halben Jahrhundert an sie. Auf Spurensuche nach dem Tanz vor 1938, war Andrea Amort schon vor geraumer Zeit mit Stella Mann in Kontakt getreten. Auf ihre Anregung hin studierte Stella Mann einen ihrer erfolgreichsten Tänze neu ein. Dieser wird 2008 im Rahmen des Festivals „Berührungen. Tanz vor 1938 – Tanz von heute“ in einem Film gezeigt.

Mit einem Mal meldete sich auch das offizielle Wien. Betrieben von der damaligen österreichischen Botschafterin in London, Gabriele Matzner-Holzer, überreichte Andreas Mailath-Pokorny vor drei Jahren im Haus am Belgrave Square Stella Mann das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien. Stella lässt die Ehrung mit der Allüre einer ersten Bühnenpersönlichkeit über sich ergehen. Über den Dingen stehend, mit einem Zwinkern in den Augen, nimmt die ganz und gar nicht gebrechliche Siebenundneunzigjährige lachend Huldigungen entgegen. Der hundertste Geburtstag, der in der Finchley Road gefeiert wird, wo Stella Mann noch immer lebt, wird wohl in ähnlicher Weise über die Bühne gehen.

Dear Stella, Vienna wishes you a Happy Birthday and many happy returns!

*2003 übersiedelte das Stella Mann College nach Bedford, GB: www.stellamanncollege.co.uk

Seitdem Stella Mann nicht mehr Tanz unterrichtet, malt sie und schreibt Gedichte. Ihre Gemälde und Poesie sind auch in ihrem Buch und online zu sehen.