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Wagner1Er rückt näher, der Horizont, der das eigene, jetzige Leben mit seiner unabwendbaren Finalität begrenzt. Und das verschiebt den Blick, der in jüngeren Jahren auf die Gestaltung des Erwerbslebens und seiner Identität in realen und seit Jahren auch in virtuellen Welten gerichtet ist, hin zum immer überschaubarer werdenden Rest des Lebens. „oder Hyper Hyper oder Melancholia“ ergänzt Otmar Wagner (Ü50) den Titel seiner neuesten Arbeit.

Sie laufen im Gleichschritt auf drei Laufbändern, den Blick starr auf ein Ziel gerichtet, das irgendwo da vorn, in unserer Mitte liegen muss. Vor drei riesigen hochformatigen Screens, aus deren leuchtendem Weiß langsam farbliche Strukturen auftauchen, letztlich die gerade schon lesbaren Buch-Deckel von Fitness-Ratgebern, bald schon wieder im Weiß zergangen. Sie laufen. Aus dem Rauschen von Wind und Rollenlagern wächst rhythmischer Pop. Synthesizer-Fanfaren blasen das Intro zum „Final Countdown“.

Hinten schärfen sich Lebensführungs-Ratgeber. Das E-Gitarren-Intro von ACDC's „Thunder“ drückt sich an der Wand entlang. Die Drums treiben. Sie atmen im Rhythmus. Zählen. Es nimmt einen mit. Psychologie- und Finanz-Ratgeber. „We are forever the Champions“ singen sie. Neue Buchtitel zum Jung-Bleiben, zum glücklichen Leben und selbigem im Jetzt. Pop-Songs: „There's no living“, „Eternally“, „No Mountain too high“. Wagner2

Sie pushen sich mit Sprechgesang. „Win Win Win Win!“ Nach deutlichem Ritardando empfiehlt Lou Reed's Glissando-Basslinie „Take a walk on the wild side“. „Du bist großartig“ suggeriert ein Ratgeber hinten. Lyrische Zeilen singen und sprechen sie in einer schönen Komposition von Oliver Stotz (Sound und Musik). Und die Ratgeber zerbröseln zu Pixeln. Sie beginnen, wie die drei da vorn, zu laufen. Harte Gitarren-Riffs und immer schnellerer Rhythmus treiben sie an, zu beschleunigen. Die Frauen kommen aus dem Rhythmus. Die Pixel und die LäuferInnen rasen. Chaos. Dann Innehalten. Erschöpfung.

Die eine hängt über ihrem Gerät. Die andere dehnt sich, versucht's dann mit tänzerischen Moves. Und er, fast infantil, kreiert spielerisch einen erweiterten Laufband-Begriff, turnt darauf und macht musikalische Geräusche mit dem Fuß. Zwei englischsprachige Erzähler reden von Projekten, Technologie und in Beziehungen gebrachten Systemen. „What a wonderful world“, nur angespielt. Es geht langsam wieder los. Lou Reed's Basslinie aber, viel zu langsam, begleiten sie mit Zeitlupen-Fitness-Walk. Asiatische Klänge wie im Spa, langsame Perkussion, die Pixel auf den Screens wachsen und werden vom Weiß in den Keller gedrückt.

Wagner3„Ich habe Scheiße in den Augen und im Herzen.“, flüstern sie. „Gott läuft aus, lacht, strahlt. Der Glanz der Sonne singt.“ Musik setzt ein, beschleunigt, der Text in Wiederholungen, die Screens sind weiß, der Rhythmus treibt. Sie laufen wieder synchron. Choral-Gesang dazugemischt. Es dröhnt. Und verebbt. Nur noch ihre Schritte sind zu hören, wie sie den Rhythmus treten. 

Die drei PerformerInnen Claudia Splitt, geb. 1967, in Berlin lebende Schauspielerin und Sängerin, Magda Loitzenbauer, seit 30 Jahren in Wien lebende, 1966 in Brasilien geborene Sportlehrerin, Tanzpädagogin, freischaffende Tänzerin, Choreographin, Performerin und Yogalehrerin, und 

Andi Haller, geboren 1962 in Innsbruck, Musiker, Filmemacher, Schauspieler und Dozent, alle also 55+, zeigen sich körperlich beeindruckend fit.

Sie laufen fast eine Stunde lang. Sie laufen weg. Das, wovor sie flüchten, was sie mit Adrenalin und mit positiven Glaubenssätzen zu überschreiben versuchen, sind einerseits sie selbst, ihr tief in sie eingegrabenes Gefühl von Minderwertigkeit, von Nicht Genügen. Welches andererseits in ihrer bereits eingetretenen Zukunft noch verstärkt werden wird durch einen paradoxen Konsens in unserer Gesellschaft, mit deren (Über-) Alterung die Masse wertvoller Konsumenten und Wähler wächst, die den Alt Gewordenen jedoch die Wertschätzung für ihre Lebensleistung und ihr produktiv-konstruktives Potential entzieht. Der in anderen Kulturen gelebte Respekt vor Erfahrung und Weisheit erscheint hier, in den Augen Jüngerer, geradezu lächerlich. Und sie fliehen die Mit-Verantwortung für die Erhaltung des Lebensraumes Erde gegenüber den nachfolgenden Generationen. Im Angesicht des diesbezüglichen individuellen und kollektiven Versagens der jetzigen Generation 50+ und der darin keimenden Schuldgefühle braucht es starke, sinnstiftende Ideale.Wagner4

Und wo laufen sie hin? In die Arme von dankbaren Apologeten unendlichen Wachstums, die fruchtbaren Boden finden in den mangelernährten Psychen der vermassten Menschen für ökonomische und soziale, letztlich also gesellschaftliche Attraktionen an den Horizonten individueller Lebens- und Identitäts-Entwürfe, geschmiert von den Ölen einer verständlicher Weise boomenden Ratgeber-Industrie, die einer hilf- und orientierungslosen Menge viele Wege weist. Manchmal nur um ihn herum, den Kern.

Die moralisch-ethische Dimension von „Fit for Future“ ist eine schmerzende. Das physische Schinden als Metapher für die mentale Herausforderung, vor die uns das Altern in dieser Gesellschaft stellt, tut weh und kann Angst machen. Das patriarchal-frauenfeindliche, das Kompetitive als Wesenskerne unserer Leistungsgesellschaft dulden weder Schwäche noch Zurückbleiben, Ausscheren, Alternatives, Kontroverses, weil letztlich ökonomisierte humane Lasten. Das Asoziale am alle Lebensbereiche und -Alter, auch die Kunst durchdringenden Wettbewerb bleibt als bitterer Nachgeschmack dieser feinen, vielschichtigen, reichlich bedankten Arbeit.

Otmar Wagner mit „Fit For Future“ am 01.04.2023 im WUK Wien.

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