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Scattered1Vereinzelte Erinnerungen an 35 Jahre „Ultima Vez“ präsentierte der Belgier Wim Vandekeybus in seiner Jubiläums-Arbeit „Scattered Memories“, die beim ImPulsTanz-Festival ihre Uraufführung erlebte. Viele seiner WegbegleiterInnen sind gekommen, um in einer rasanten Show dem Kernthema des wegweisenden Choreografen und Tänzers zu dienen. Und sie ließen es ordentlich krachen.

Was ihn seit seinen jungen Jahren, bereits mit 24 präsentierte er das noch heute gespielte Stück „What The Body Does Not Remember“ mit seiner frisch gegründeten Kompanie, fasziniert und nicht loslässt, ist in jeder seiner Arbeiten präsent: Wie verhält sich der Mensch in Extremsituationen? Konflikte und eine instinktive, impulsive und intuitive Reaktion darauf setzt er von Anbeginn in eine dynamische, von hoher Körperspannung und akrobatischen Einflüssen geprägte Bewegungssprache um. Die Energie seiner Arbeiten beeindruckt immer wieder.

Wim Vandekeybus eröffnet die Show mit einer langen Ansprache, in der er von einer Aufführung im Gefängnis von Helena Montana erzählt. Ein Tänzer erscheint vor dem Vorhang, drei kriechen unten durch. Musik. Der Vorhang senkt sich und gibt eine lange Reihe bunt gekleideter TänzerInnen frei, die brav aufgereiht ins Publikum strahlen. Vorhang nach hinten gebracht. Party. Bis zur Erschöpfung tanzen sie durcheinander, setzen sich. Stille. Ein Paar erscheint und tanzt. Ein zweites, ein drittes, sie wechseln die Partner. Die Musik treibt sie an. Konflikte. Sie drücken, schieben, zerren, springen. Sehr dynamisch das alles. Seine Themen, seine Moves.Scattered4

Ein skurriles Interview folgt. Sein Alter Ego wird von einer attraktiven Frau, die ihn als „menschliche Atombombe“ bezeichnet, befragt. Doch Antworten bekommt sie nicht. Sie flirtet heftig, rutscht auf seinen Schoß. Die Rollen vertauschen sich. „Andere reden über seine Kunst und erklären sie … Wir suchen das Monster, Ekstasen, das Unsichtbare im Unsichtbaren, das Geheimnis, die Energie, die aus Unfällen und Katastrophen entsteht.“

Scattered3Eindrücke von seiner Arbeit als Fotograf und Filmemacher vermittelt Wim Vandekeybus auf der Leinwand im Bühnenhintergrund. Ein Kurzfilm zeigt einen Mann, der wie ein Beobachter durchs Leben geht. Feiern, Demos, Gewalt sieht er, während unten auf der Bühne heftig diskutiert wird. Ultima Vez'sches Sprachengewirr. Der Sound rauscht und dröhnt dazu.

Es wäre nicht Wim Vandekeybus, wenn er nicht auch inhaltlich ans Eingemachte rührte. In einer Traum-Sequenz erwachen die TänzerInnen zu vielen kurzen Soli. Sie präsentieren darin einerseits das Bewegungsmaterial der Kompanie, andererseits die hohen Maßstäbe, die Vandekeybus von Anbeginn an das tänzerische Vermögen seiner Ensemble-Mitglieder legte. Auch die etwas Älteren zeigen sich topfit. Die Athletik und Akrobatik, die Dynamik und Expressivität begeistern. Das Ineinanderfließen der einzelnen Beiträge kennzeichnet auch den Charakter des Stückes insgesamt: Ineinander verwobene Episoden.Scattered6

Die Fragen werden tiefer, die Geschichten profunder und poetischer. Im Dunkel fuchteln sie mit Lampen in der Hand und suchen. Was sie hoffen zu finden im Dunkel des menschlichen Seins, wird später klarer. Ein Paar tanzt das Fallen und Aufgefangen-Werden. Das Gehalten-Werden in der Haltlosigkeit. Ein anderes die Sehnsucht nach Nähe und die Ablehnung. Aggression. Der Vitruvianische Mensch, Leonardo da Vincis Darstellung der perfekten Proportionen eines männlich-menschlichen Körpers, wird zum Gegenstand weiblicher Untersuchung, Befragung, Infragestellung und Destruktion. Wütend scheinen sie patriarchale Selbstherrlichkeit anzugreifen. Die Männer beginnen zu zweifeln. Die Perfektion zerrinnt. Es fließt über in Liebe.

Eine Frau schnallt sich ein Gewehr zwischen die Beine. Wie mit einem eregierten Penis attackiert sie ihre Tanzpartner an deren empfindlichster Stelle. Sogar einen Zuschauer, den sie auf die Bühne holt und schließlich an die Wand tanzt. Geschlechterkampf im doppelten Sinne, den eigentlichen Ursachen von Gewalt und Krieg auf der Spur. Ein einfaches und doch so komplexes Bild.

Scattered2Ein Video in Slow Motion. Wasser, Fluten, Feuer, Ertrinken, Angst, Flucht, ein Kind wird im Schlaf überspült. Von der Idee, Kinder einzupflanzen, redet einer. Aber sie wachsen nicht, trotz Gießens. Von der Unfähigkeit, den Anderen zu lieben, weil man sich selbst nicht liebt, erzählen Film und Tanz. „Warum hat er uns erschaffen?“ Die Erde, die sie vordem ausschütteten, schieben sie ganz nach vorn. Sie tanzen aus dem Liegen heraus ein Spiel mit der Schwerkraft, Urban Dance und Schulterstand. Aziz schaut nachdenklich zu. „Ich kam, um dir deine letzten Worte zu verkaufen.“

Alles zu entschlüsseln wird wohl nicht gelingen. Dass dieses Stück vollgepackt ist mit Metaphern und vieldeutigen Bildern, lässt Vandekeybus jedoch sehr deutlich spüren. Das Alter Ego redet über seine Energie. „Was tun damit? Bin ich ein so genannter Künstler? Oder sollte ich doch eine neue Sorte Eis erfinden?“ „Lausche all dem Nichts!“ Ein Vorhang senkt sich, voll von bunten Kleidern. Vor ihm tanzt eine Frau den flirrenden Zweifel. Sie fällt, steht auf, fällt wieder und bleibt liegen. Hinter dem sich hebenden Vorhang stehen die anderen 22 TänzerInnen aufgereiht.Scattered5

Erinnerungen, Wiedersehen, Bestandsaufnahme, selbstironische Rückschau, Poesie, bitterernste Selbstbefragung und das Zweifeln als Seinsweise sprechen aus den „Scattered Memories“ des Wim Vandekeybus. Das Unbekannte, Ungewisse zu tanzen, die Energie in den Dingen zu erspüren und in Bewegung zu übersetzen und nebenbei noch große, tiefe Geschichten zu erzählen ist seine Leidenschaft.

„Scattered Memories“ ist die Feier einer zu allen Zeiten international und hochkarätig besetzten Kompanie und eines Ausnahme-Choreografen, der das zeitgenössische Tanzschaffen seit 35 Jahren beeinflusst. 

Ultima Vez / Wim Vandekeybus: „Scattered Memories“ am 29. Juli 2022, (Premiere am 27. Juli) im Wiener Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz.

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