Hauptkategorie: Kritiken

Wanderung1La Strada, das Internationale Festival für Straßenkunst, Figurentheater, Neuen Zirkus und Community Art musste sich in diesem außergewöhnlichen Jahr 2020 zwar sehr wohl ‚ein wenig‘ neu erfinden; aber im Grunde nur im Detail und nicht in seinen Basis-Intentionen, die da sind: künstlerische Interventionen (möglichst) im öffentlichen Raum anzubieten und eine breite Bevölkerung daran so aktiv wie möglich zu beteiligen.

Unter den gegebenen Umständen war mehr an Flexibilität und Kreativität vonnöten. Mehr denn je war gefragt, die Stadt und ihren Alltag zu bespielen und mitspielen zu lassen. Um nicht zu sagen: Wieder zu beleben. Und dies ist (in einer gewissen, in einer situationsorientierten Bescheidenheit und gleichzeitiger Größe) gelungen in dieser einen Woche – „trotzdem“.Meinhart1

Der 1. Satz

Nein, es war nicht alles perfekt; aber es war sehr gut so; sehr gut, dass es war. Es war besonders gut so, dass das als nunmehr (symphonisch) 1.Satz bezeichnete, feinfühlige und ganzjährige Projekt von Joanne Leighton, „The Graz Vigil“, einen fixen, einen täglich stattfindenden Rahmen abgab: allen, in welcher Weise auch immer Beteiligten, Halt gab und gibt. Geradezu symbolisch widmet sich doch in diesem Jahr der Unsicherheiten tagtäglich bei Sonnen-Auf- und -Untergang ein Mensch vom Schlossberg aus eine Stunde lang der „Bewachung“ der Stadt. Mit Weitblick und Überblick. Gleichzeitig eröffnen sich ihm damit stellvertretend für alle Bewohner neue Perspektiven – hoffentlich und (aktuell) besonders notwendig.

Meinhart2Der 2. Satz: Musikalisches …

Der 2.Satz (24. Juli bis 1. August) dieser erstmalig und nicht ganz freiwillig stattfindenden „La Strada-Jahres-Symphonie“ basiert ganz wesentlich auf belebend-zusammenführenden und gemeinschaftlichen Komponenten von Musik. Als Auftakt stand und steht dafür in charakteristischer Weise Günter Meinharts „Die sanfte Antwort“, ein 19minütiges Solo für (beliebig) viele, komponiert in 19 Tönen, die von jedem, der auf einem Instrument Basiswissen sein eigen nennt, nach online Einstudierung bei einer der gemeinsam vorgetragenen „solidarischen Klangskulpturen“ mitwirken konnte. Entsprechend der derzeit geltenden Abstand-Regeln, also etwa großzügig verteilt in der Herrengasse, gleitet der dort Spazierende von einer individuellen alters- und oder temperamentspezifischen Interpretation einer gemeinsamen Musik zur nächsten, vom Klang eines Instruments zum anderen. Mutspiel2

Ein Hörerlebnis, bei dem dieses durch eigenes Geh- und damit Hör-verhalten „mitgestaltet“ werden kann. Bewegung ist auch bei Christian Muthspiels „Human Music Machine for Graz“ ein wesentlicher, die prachtvollen Arkaden des Landhauses zusätzlich belebender Faktor. Spielen doch die 18 MusikerInnen des Orjazztra Vienna lustwandelnd ebendort; aber ohne merkbare Verbindung zueinander. Eine Partitur, die zeitlich gegliedert ist, macht es möglich und vermittelt in dieser unmittelbaren Raum-Klang Verbindung ein immerwährendes, sanft tragendes, schwereloses Fließen in Zeit und Raum, von dem man sich gerne mitnehmen lässt.

SignalKaum weniger verführerisch sind die drei Sopranistinnen, die Sirenen gleich etwa den Brunnen am Eisernen Tor umrunden, in dessen Mitte eine elektronische Klanginstallationen sich mit dem Live-Gesang verbindet. „Signal in Graz“ ist eine zauberhafte, site-spezifische Arbeit in mehreren Variationen (die Kompositionen sind auch von Dächern oder Fassaden zu vernehmen) des niederländischen Duos Strijbos & Van Rijswijk, die durch dieses außergewöhnliche Hören ein neues Sehen aus Klang-Perspektiven provozieren.

… und PerformativesWanderung

Für all diese und weitere Veranstaltungen gab es, um größere Menschenansammlungen zu vermeiden (also aus derzeit geltenden Sicherheitsgründen) zeitliche und örtliche Orientierungsrahmen. Positiver Nebeneffekt war einerseits die derart durch die „Ungewissheit“ geweckte Neugierde und Entdeckungslust, andererseits das Phänomen, überraschend über Kunst zu „stolpern“. Schließlich wurde aber auch und dazu im Kontrast an einem ausgewählten Tag eine geführte „Wanderung“ in Kleingruppen angeboten, um innerhalb kurzer Zeit den Großteil der Innenstadt-Performances kurz kennenlernen zu können. Kein schlechtes Konzept, grundsätzlich; allein, ein etwa einstündiges Gehen im Gänsemarsch und Zeitlupentempo sowie (selbstverständlich) mit großzügigem Corona-Abstand war dann bei aller gutgemeinter Organisation (Umleitung von Straßenbahn- und Busverbindungen im Zentrum) nicht wirklich den Aufwand wert oder zielführend.

Liquid Loft1Die noch zusätzliche Aufforderung zum Schweigen sollte zwar wohl die Aufmerksamkeit für die Stadt wie für das jeweilige Kurz-Kunst-Erlebnis erhöhen, allein: die gekünstelt wirkende Gesamt-Situation unterband weitgehend das Angestrebte, also eine entspannt fokussierende Rezeption. Daran mussten insbesondere die 8 TänzerInnen unter der Leitung von Chris Haring glauben, deren Agieren in „Stand-Alones“ beim derart reglementierten Vorbeimarschieren kaum in seiner linearen Bildhaftigkeit zur Geltung kam; was sie sich nicht verdient hatten.Liquid Loft2

Zeitgenössischer Zirkus mit Circa Contemporary aus Australien war als großformatiges, international besetztes Eröffnungsprogramm im Opernhaus geplant gewesen, doch den Umständen zum Opfer gefallen. In kreativer Aufbereitung versuchte man nun, Interessierten doch einen kleinen Vorgeschmack auf das nun für nächstes Jahr Geplante zu geben: 18 heimische Mitwirkende kreierten in „Cube Studies 1“ Tänzerisch-Akrobatisches; kleine Sequenzen in begrenztem Raum, was symbolisch für die Gegebenheiten gestanden sein mag. Appetithappen - ja, aber doch ein bisschen sehr sparsame, kurze.

Cube1Auch für die undurchführbare La Strada Koproduktion (mit Unterstützung von IN SITU im Rahmen von Kulturjahr Graz 2020) „this city’s loneliness“ hatte man versucht, eine Art Platzhalter in den Köpfen des zukünftigen Publikums zu kreieren: workinglifebalance ltd. und TiB (Theater im Bahnhof) arbeiteten also mit dem, was geplant war, das heißt, sie ließen die (nicht anweisenden) Beteiligten über Kopfhörer davon erzählen, was hier, am Andritzer Hauptplatz, eigentlich zu sehen wäre, eigentlich zu sehen sein sollte, während 3 PerformerInnen live und (bewusst) verloren dastehen, schauen, laufen, gestikulieren, tanzen, im Brunnen plantschen… Die Diskrepanz, aber auch die Übereinstimmung von Gehörtem und Gesehenem haben ihren Charme, sind nicht unwitzig, haben allerdings aber auch Einbrüche und Längen – bei aller Präsenz der Darstellenden.

La Strada 2020: 1. Satz: „The Graz Vigil“, 1. Januar bis 31. Dezember; 2. Satz: „Die Kunst kommt zu den Menschen“, 24. Juli bis 1. August; 3. Satz: 28. August bis 4. September; 4. Satz: Herbst 2020

Cube3