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Cinderella1Märchenhaft startet das Festspielhaus St. Pölten in die Spielzeit 2019/20. In dem bereits 1999 in der Monte-Carlo Opéra uraufgeführten Handlungsballett „Cinderella“ von Jean-Christophe Maillot, hier in Begleitung des Tonkünstler-Orchesters aufgeführt, wird aus „Aschenputtel“ ein Psychogramm der AkteurInnen mit überraschenden Um-Schreibungen der Story.

Die Geschichte des armen, mit Vater, Stiefmutter und zwei Stiefschwestern lebenden Mädchens, in das sich der Prinz verliebt und das er nur mit Hilfe dessen verlorenen Schuhs wiederfinden kann, ist hinlänglich bekannt. Maillot fügt eine wesentliche und die Handlung tragende Rolle hinzu: die einer Fee, die dem Geist der verstorbenen Mutter wirkmächtige physische Präsenz verleiht. April Ball glänzt in dieser Rolle.Cinderella2

Und dass ein Ensemble-Mitglied sich am Vortag bei den Proben verletzt hatte, was den Choreografen zu einer Umbesetzung von nicht nur einer, sondern gleich sechs Rollen veranlasste, die physischen Vertrautheiten der TänzerInnen berücksichtigend, war der Aufführung nicht anzumerken. Profis eben.

Cinderella5Cinderella (Anjara Ballesteros) tanzt im schlichten grauen Kleid, mit güldenem Feenstaub an ihren bloßen Füßen, ehrlich unter all den Eitlen, zerbrechlich inmitten der gefallsüchtigen Hofgesellschaft. Die von Jérôme Kaplan entworfenen Kostüme zeichnen die Charaktere auf treffliche Weise und heben das Stück in seine psychologisch dramatische Dimension, von der Unverstelltheit seiner Hauptfigur und dem innerlich zerrissenen Vater (Matèj Urban) über die boshaften und auch erotisch verführerisch agierenden Stiefschwestern samt deren Mutter (Marianna Barabas) bis in die Skurrilität der selbstverliebten Ballgäste und das Quartett fernöstlich-exotischer Schattentänzerinnen, die den auf der Suche nach seiner entschwundenen Geliebten weitgereisten Prinzen umwerben.

Das Bühnenbild gestaltete Ernest Pignon-Ernest mit verschiebbaren, leicht gewellten Wänden als Projektionsflächen, nicht nur für Text und Farben, Zerr-Spiegeln, in denen sich die Narzissten genüsslich bewundern, und einer Treppe, einer „Stairway to heaven“. Gemeinsam mit dem Lichtdesign von Dominique Drillot entstehen Stimmungen, so variabel wie die Handlung. Traum und Wachen, Fantasie und beklemmende Wirklichkeit, Widerstand und Hoffnungslosigkeit, Provokation und Verführung, Verzweiflung und mutige Selbstbehauptung, Sehnsucht und letztlich erfüllte Liebe zeichnet Maillot in seine Haupt-Figuren, jenseits jeder Simplifizierung untheatralische, lebendige Menschen, gerahmt von infantilen Party-People. Sehr von klassischem Vokabular bestimmt, tanzt die Compagnie auf höchstem Niveau. Die zuweilen nur kurzen Einwürfe zeitgenössischer „Moves“ sind das Salz in der Suppe der komplexen Seelenlandschaften.Cinderella3

Die ungeheure Dichte der Erzählung fordert Aufmerksamkeit in jeder Sekunde. Flink eingeflochtene Verfremdungen des Originalstoffes sind teilweise äußerst amüsant. So passt der Schuh einer der Balldamen, die mit ihrem Geliebten verschwindet und sofort darauf mit vier Babies wieder erscheint.

Auch der Vaterfigur gibt Maillot ein komplexes Profil. Nach einem herzzerreißend schönen Pas-de deux im zweiten Teil mit (dem Geist) seiner verstorbenen Frau, nun im weißen Kleid mit geöffnetem Haar, verstößt er seine jetzige Angetraute. Und er befürwortet die Liebe seiner Tochter zum Prinzen (Simone Tribuna), die mit ihrem finalen Duett den Abend krönen.

Cinderella4Der Facettenreichtum der Musik von Sergej Prokofjew, die den so gar nicht eindimensionalen Charakteren von gefühlvoll bis dramatisch ein akustisches Fundament gibt, ist für sich schon ein Genuss. Nach nur zwei Proben mit dem Dirigenten brilliert das Tonkünstler-Orchester unter der Leitung des Russen Igor Dronov.

Jean-Christophe Maillot, seit 1993 künstlerischer Leiter des Les Ballets de Monte-Carlo, schuf an die 40 Werke für seine Compagnie, Handlungs- und abstrakte Ballette. „Cinderella“, vor 20 Jahren entstanden und bis dato weltweit 263 mal aufgeführt, sieht man sein Alter an. Verstaubt jedoch wirkt es nicht. Am Kitsch vorbei schafft Maillot ungemein poetische Bilder für seine so einfühlsam gezeichneten Charaktere, sehr humorvoll auch, und manchmal schrill.

Les Ballets de Monte Carlo „Cinderella” am 5. Oktober 2019 im Festspielhaus St. Pölten