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saopaolo3Die Frage nach der individuellen und kollektiven Identität ist ein Dauerbrenner in zeitgenössischen Tanzproduktion. Lisi Estaras und Ido Batash suchten sie angestrengt in „The Jewish Connection Project“. Bei seiner Hommage an Caetano Veloso des Balé da Cidade de Sað Paulo lag die „Brasilianität“ hingegen auf der Hand. Jérôme Bel macht nun ein anderes Themenfeld auf: Als überzeugter Umwelt-Aktivist stellt er sich der globalen Frage der Zeit und schaut in einem Film auf sein bisheriges Schaffen zurück.

Ismael Ivo / Balé da Cidade de Sað Paulo

“Brazil is not for beginners,” sagte einst Antonio Carlos Jobim, ebenso wie Caetano Veloso einer der prägenden Vertreter der brasilianischen Populärmusik. Um letzteren dreht sich das Gastspiel des Balé da Cidade de Sað Paulo. Auch „Um Jeito do Corpo“ ist kein Stück für Brasilien-Anfänger. Konzept und Idee dafür stammen vom künstlerischen Leiter der Compagnie, Ismael Ivo.saopaolo5

Die Choreografin Morena Nascimento, ehemalige Tänzerin beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, hat biografische Momente des Musikers aufgegriffen, um ein Bild der brasilianischen Gesellschaft zu zeichnen, das von Widersprüchen geprägt ist. Dafür eignet sich Velosos Biografie bestens, der nicht nur musikalischer Erneuerer war, sondern bis heute als politischer Aktivist immer klar Position bezog. Zum Beispiel während der Militärdiktatur der 1970er Jahre, die ihn erst ins Gefängnis steckte und dann ins Exil trieb. Nun spricht sich der 76-Jährige gegen die Politik des Präsidenten Jair Bolsonaro aus. Caetano Velosos sanfte, mitunter anarchistische, aber durchgängig rhythmische Musik, die den Tropicalismo geprägt hat, trägt das Stück und wurde stellenweise von Cacá Machado neu gesampelt und arrangiert.

saopaolo2Die flinken TänzerInnen des Balé da Cidade de Sað Paulo in ihren bunten, leichten Kostümchen verbreiten keineswegs (nur) fröhliche Strand-Partystimmung, sondern zeigen Gewalt, Verfolgung und Vertreibung. Sie präsentieren in (homo-)erotischen Szenen die Genderdurchlässigkeit einer toleranten, liberalen Gesellschaft, die heute auch in Brasilien in Frage gestellt wird. Bühnenbildner Marcel Kaskeline hat einen Raum konstruiert, der sich durch das Lichtdesign von Alina Santini jeweils an die unterschiedlichen Stimmungen anpasst. Gegen Ende des 60-minütigen Stücks wird er vom Licht vor der Tür überstrahlt. Brasilien ist (wieder) dunkel geworden. saopaolo

Nicht alle im Wiener Publikum werden aus der losen Szenenfolge klug geworden sein. Zusätzliche Verwirrung stiften biografische Details, etwa wenn ein Foto von Pina Bausch an das Gesicht eines Tänzers gehalten wird, gefolgt von einer Tangoeinlage. Diese Szene bezieht sich auf eine einmalige Begegnung Velosos mit der deutschen Tanzikone. Wenn jedoch die wendige Tanzgruppe brasilianische Lebensfreude versprüht, dann reißt sie wohl auch die etwas Ratlosen mit.

saopaolo4Im Anschluss an die Aufführung wurde Ismael Ivo, Mitbegründer von Impulstanz und nunmehr Direktor des Balé da Cidade de Sað Paulo von der Republik Österreich im Burgtheater das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen.

 

Lisi Estaras & Ido Batash / MonkeyMind Company „The Jewish Connection Project”estaras1

Das Eintauchen in die brasilianische Identität gestaltete sich für das Team um Ismael Ivo ganz natürlich. Die jüdische Wesenheit aufzuspüren war für Lisi Estaras und Ido Batash ungleich komplizierter. Denn die von Estaras propagierte Monkey Mind Methode als eine Übersetzung der herumspringenden Gedanken in Bewegung erweist sich – zumindest in diesem Fall – als theateruntauglich.

estaras2Dabei beginnt es noch ganz spannend. Maribeth Diggle (die später mit einer Wagner-Arie beeindrucken wird) spricht lautmalerisch ein Gedicht ins Mikrofon, in dem es um Jüdisch-Sein geht. „Don’t let history play its nasty act“, sagt sie etwa. Dazu starren die DarstellerInnen – 5 TänzerInnen und 6 Mitglieder der lokalen jüdischen Community (die dann bald von der Bühne verschwinden) – frontal ins Publikum. Doch die angesprochene Thematik vergisst man bald. Denn „The Jewish Connection Project” kommt daher wie ein Workshop-Showing mit Versatzstücken, die man anderswo schon zig-mal (und oft besser) gesehen hat: Grimassen schneiden, Augen verdrehen, den Boden küssen, sich lecken bis hin zu kindischem Hüpfen und Kreischen. Da hilft auch nicht, dass im Hintergrund der Sound von Gefechtsschüssen läuft oder dass die TänzerInnen immer wieder die Arme in Schusspositionen bringen. estaras3

Einzig die Nacktheit wird hier sehr dezent angegangen, indem die PerformerInnen fast verschämt, lediglich kleine Hautregionen freilegen. Am Ende holen sie Menschen aus dem Publikum auf die Bühne. Diese bleiben frontal zum Publikum stehen, während die DarstellerInnen durch den Zuschauerraum abgehen und das Saallicht erlischt. No comment needed …

belJérôme Bel: „Retrosepctive“

Jérôme Bel ist Umweltschützer geworden. Nicht nur, dass er sich zur Zeit mit dem Thema Kunst und Ökologie auseinandersetzt, er hat auch Flugreisen mit seiner Compagnie ausgesetzt. Damit er aber auch international präsent sein kann, hat er als sein 20. Werk einen Film produziert, der aus 18 Szenen seiner wichtigsten Werke besteht und einen Zeitraum von 1995 bis 2015 umfasst.disabledtheatre

Seinem ersten, international beachteten Werk gab der junge Choreograf gleich einmal sehr selbstbewusst seinen eigenen Namen und etablierte damit seine „Marke“. Unternimmt er in „Jérôme Bel“ noch eine überaus ernsthafte, langsame und konzentrierte Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit des Körpers, indem er die TänzerInnen ihre Haut unter anderem falten und vermessen lässt, so kommt bereits in „Shirtology“ der humorvolle Entertainer zum Vorschein. Diese Dialektik setzt sich in dem Stück für die scheidende Tänzerin der Pariser Oper „Véronique Doisneau“ ebenso durch wie in „Disabled Theater“ mit dem Theater Hora. Ganz der Pop-Kultur verpflichtet sind seine Werke „The Show must go on“ und „Gala“. Bel reiht in dem Film kommentarlos Szenen aus diesen sieben Stücken (in chronologischer Folge) aneinander und bleibt damit seinem dekonstruktivistischen Grundsatz treu: weniger ist mehr.

Veronique„Retrospective“ ist eine kurzweilige Zusammenfassung über die Entwicklung eines Künstlers, der mit seinen originellen und klugen Inszenierungen das Publikum fesselt, aber auch zum Nachdenken anregt. Ob er nun mit klassischen TänzerInnen, behinderten SchauspielerInnen oder Semiprofessionellen arbeitet, Bel ist immer auch ein heiterer Humanist.

Jérôme Bel: „Retrosepctive“ am 22. Juli im Akademietheater; Ismael Ivo / Balé da Cidade de Sað Paulo „Um Jeito de Corpo“ am 23. Juli im Burgtheater; Lisi Estaras & Ido Batash / MonkeyMind Company „The Jewish Connection Project” am 28. Juli im Akademietheater; alle bei Impulstanz (noch bis 11. August)