Hauptkategorie: Kritiken

Uhlich1Nach mehrmonatiger Umbaupause eröffnete die neue künstlerische Leiterin Bettina Kogler ihre erste Spielzeit im Tanzquartier Wien (TQW). Highlight des dreitägigen Eröffnungsfestes war zweifellos die Produktion „Every Body Electric“, eine Choreografie von Doris Uhlich mit TänzerInnen mit physischen Beeinträchtigungen. Damit gaben Kogler und ihre Programmdirektorin Christa Spatt ein engagiertes Statement für Inklusion und Offenheit ab, das hoffentlich auch in der künftigen Ausrichtung des Tanzquartiers gültig bleibt.

Zwei ungewöhnliche Körper liegen nackt auf der Bühne, langsam und mühsam setzen sie sich in Bewegung, verlassen die Bühne. Der wummernde Sound von Technobeats setzt ein, der die Körper der TänzerInnen, die mittlerweile mit ihren Rollstühlen auf der Bühne positioniert sind, erfassen und in Schwingungen versetzen. Dieser Body Groove zieht sich durch das etwa 70-minütige Stück. Denn mit „Every Body Electric“ setzt Uhlich einerseits ihre Forschungen der letzten Jahre über „Energietanzkörper“ fort. Andererseits loten die Choreografin und PerformerInnen die Bewegungsmöglichkeiten der individuellen Körper aus, testen die Grenzen des Machbaren und eröffnen sowohl den Ausübenden wie den Zusehenden eine neue Erfahrung von Körperwahrnehmung.

Im Gegensatz zu anderen, jüngeren Uhlich-Produktionen (etwa Uhlichs Duo mit Michael Turinsky "Ravemachine", das mit em Nestroy-Preis 2017 ausgezeichnet wurde) geht es diesmal nicht um eine Übersetzung von Raves auf die Bühne, also um ein Tanzen bis zur Erschöpfung. „Every Body Electric“ ist eine sorgfältig gebaute Choreografie, in der auf Momente der Verausgabung ruhige Passagen folgen, die auch dem Publikum Raum zum Atmen gibt. Uhlich3

Uhlich lenkt den Blick nicht auf Defizite, sondern auf die Potenziale dieser TänzerInnen: Etwa wenn der Tanz zu den pochenden Rhythmen den Körper ganz erfasst, auch wenn der Tänzer keine Beine hat. Oder wenn Rollstühle und Gehhilfen zu einem Teil des Körpers und als solche "mittanzen". Gegen Ende des Stückes legen einige Ensemblemitglieder ihre Kleider ab und in Beziehung zu den nackten Körpern wird besonders offensichtlich, dass die mechanischen Hilfsmittel Erweiterungen und Gliedmaßen zugleich sind.

Uhlich4Für die neun TänzerInnen (Erwin Aljukic, Yanel Barbeito, Adil Embaby, Sandra Mader, Karin Ofenbeck, Thomas Richter, Vera Rosner, Danijel Sesar, Katharina Zabransky) ist dieser Auftritt wohl nachhaltiges Empowerment. Doch bei aller Empathie, die die Choreografin dem Ensemble entgegen bringt, verliert sie auch nie die choreografische Schärfe, trifft mutig riskante Entscheidungen und kreiert damit eine künstlerisch einzigartige Performance. Auf einer gesellschaftlichen Ebene ist dieses Stück radikal und schonungslos (auch wenn das im Kontext des TQW mit einem als offen geltenden Publikum nicht so empfunden wird). Doch „Every Body Electric“ gibt den Blick frei auf Körper, die noch immer um Sichtbarkeit kämpfen (müssen). Die Ästhetik, die damit definiert wird, ist nicht nur zutiefst humanitär sondern im Engagement für eine inklusive Gesellschaft zukunftsweisend.

Der zweite Eröffnungsabend: Tompkins und Cubas

In dem umfangreichen Eröffnungsprogramm habe ich am zweiten Abend die Sneak Preview von „Stayin Alive“ von Mark Tompkins gesehen, ein Stück, in dem der Performer anhand von Popsong-Texten sein Leben Revue passieren lässt. Was zur Zeit noch den Charme von „ Opa erzählt“ hat, kann man in der Endversion im Sommer bei Impulstanz erleben. Das Stiegenhaus, das zu den TQW-Studios führt, wurde von Andrea Maurer mit einer Objektinstallation geschmückt, bei denen das Fragezeichen (?) einen prominenten Platz einnahm.cubas

Im Hauptprogramm des zweiten Abends war „Anthropophagische Trilogie: Act 2 – To Resist“ der urugayischen Choreografin Tamara Cubas zu sehen. Der Kraftakt, den die PerformerInnen in einstündigen Hüpfrhythmen auf 1000 lose übereinander geschichteten Holzbrettern vollführen, endet in Andeutungen sexueller Handgreiflichkeiten. So konsequent die Hüpferei und Grapscherei auch durchgehalten werden, es erschließt sich (mir) daraus weder ein humoristischer Aspekt (falls intendiert) und schon gar nicht der Akt des Widerstands „gegen die europäische Dominanzkultur“, der laut Programmheft mit den Aktionen verbunden sein sollte. Vielleicht war damit das Bellen gemeint, mit dem der Hund das Publikum beim Einlass begrüßte. Der spielte allerdings danach keine Rolle mehr.

Doris Ulich: „Every Body Electric“ am 25. Jänner 2018 im TQW. Weitere Vorstellungen: 8. bis 10. Jänner
Tamara Cubas: „Anthropophagische Trilogie: Act 2 – To Resist“ am 26. Jänner, letzte Vorstellung am 27. Jänner.

Programm des letzten TQW-Eröffnungstages am 27. Jänner 2018