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kameliend cojocaru

Unglaublich. 36 Jahre ist John Neumeiers Ballett nach Alexandre Dumas d. J. gleichnamigem Roman „Die Kameliendame“ alt, doch weder verstaubt noch gestrig. Neumeiers Erzähltalent und seine hervorragende Compagnie (Hamburg Ballett) macht den dreistündigen Abend zu einem unvergesslichen Erlebnis.

„Die Kameliendame“, nach dem Tod des Choreografen und Lehrers Neumeiers John Cranko 1978 für das Stuttgarter Ballett kreiert, zählt zu einem der am meisten getanzten Stücke aus Neumeiers überreichlichem Repertoire. Nicht nur von seiner eigenen Truppe wird das erschütternde Schicksal der todkranken Marguarite, die die Regeln der Kurtisane bricht und sich verliebt und aus ebendieser Liebe auf den Geliebten verzichtet, auf der Bühne gezeigt. Marguerite Gautier ist eine Traumrolle jeder Ballerina. Zum ersten Mal hat endlich auch Wien Gelegenheit gehabt, dieses vollkommene Handlungsballett zu sehen.

Neumeier TänzerInnen sind längst über kleinliche Kritik erhaben und auch Alina Cojocaru vom Royal Ballet, die in der gesehenen Vorstellung als Marguerite zu Gast war, macht da keine Ausnahme Der brüllende Jubel am Ende der Vorstellung bestätigt den exzellenten Ruf der Compagnie.

Feinst differenziert. Doch es ist nicht allein Technik und Ausdruckskraft der TänzerInnen, nicht die Ausstattung und die prächtigen Kostüme von Jürgen Rose, die die Geschichte so eindrucksvoll vor Augen führen, sondern Neumeiers eminentes Talent Geschichten zu erzählen. Geschichten, die von Menschen und ihren Gefühlen handeln, Geschichten, die nicht altern, auch wenn sie in vergangenen Zeiten spielen. Das darf schon mutig genannt werden, ist doch das Geschichtenerzählen in  der Literatur und auf der Bühne nahezu verpönt. Angeblich trivial. Doch Neumeier will berühren, nie geht es ihm  um pure Virtuosität, so virtuos und technisch schwierig sein Bewegungskatalog auch ist, es sind getanzte Dialoge, in denen die Charaktere, feinst differenziert, ihr Innerstes offen legen. Was Dumas auf mehreren Seiten erzählt, zeigt Neumeier mit nur eine Hebung, einem schmerzvollen Zusammenklappen des Körpers, einem rauschhaften Rollen über dem Boden, dem atemlosen beieinander Liegen. In den Pas de deux zwischen Armand (am ersten Abend: Alexandre Riabko) und Marguerite offenbart sich Liebe ebenso wie Schmerz, Lebenshunger und Todesnähe. Marguerite ist nicht nur schwerkrank (neuerdings hat sie nicht mehr Tuberkulose sondern ist HIV-infiziert), sondern verzichtet auch auf die Liebe, weil der Vater Armands es von ihr verlangt: Mein Sohn wird durch dich verdorben. Diese Begegnung (Carsten Jung eiskalt und doch voll Mitgefühl) spannt einen so intensiven Bogen widersprüchlicher Gefühle, dass das Publikum den Atem anhält. Chopins Préludes erklingen als Schicksalsmelodie. Zeitweise geht es aber auch recht lustig zu, die Gesellschaft tanzt in Paris und auf dem Land, und amüsiert sich mit einer Polsterschlacht. Der tollpatschige Armand bringt anfangs Marguerite eher zum Lachen, die Liebe schießt nicht auf den ersten Blick ein. kameliend.vater c.jung

Auch Manon ist anwesend. Dumas’ Lieblingslektüre war der mehr als hundert Jahre vor seiner Zeit erzählte Geschichte von „Manon Lescaut“. Weil Armand Duval die Maske für Alexandre Dumas d. J. ist, erwähnt er Abbé Prevosts Buch auch in seinem Roman. Armand schenkt es Marguerite. Neumeier greift die Idee auf und lässt die erste Begegnung von Marguerite und Armand im Theater bei einer Aufführung des Balletts „Manon Lescaut“. Dieses Ballett (im Gegensatz zur „Kameliendame“ im Repertoire des Wiener Staatsballetts) stammt von einem anderen begnadeten Geschichtenerzähler. Kenneth MacMillans Choreografie „Manon“ ist 1974 uraufgeführt worden. Der Kunstgriff dieses zweite Paar – Manon und ihren Liebhaber Des Grieux – als kontrastierendes Spiegelbild und Identifikationsfiguren, einzuführen gibt der Geschichte eine neue Dimension. In den Fieberfantasien sieht sich Marguerite als Manon – so wie sie nicht sein will.

So sehr sich Neumeier an Dumas’ Roman hält, so wenig hat er mit Verdi im Sinn. Kein Ton aus „La Traviata“ (wie auch MacMillan klugerweise Massenets Opernmusik ignoriert). Stattdessen erklingen Klavier- und Orchesterwerke eines, der an der gleichen Krankheit litt wie Marguerite Gautier: Frédéric Chopin. Neumeiers Musikalität schafft es, die Walzer, Préludes, Sonaten und Ecossaises Chopins so zu integrieren, als hätte der 1849 verstorbene Komponist mit dem Choreografen zusammen gearbeitet. Unaufdringlich bis gefühlvoll die aktuelle Begleitung durch das Wiener Kammerorchester unter Stefan Vladar. Am Flügel: Michal Bialk.

„Die Kameliendame“, Ballett von John Neumeier, Gastspiel des Hamburg Ballett, 5. 5. 2014, Theater an der Wien. Letzte Möglichkeit: 7. 5. 2014, 19 Uhr. Theater an der Wien