Hauptkategorie: Kritiken

weihnachtsoraDie Kunst der musikalischen Lektüre. John Neumeier widmet sich in Hamburg erneut Bachs „Weihnachtsoratorium“ Seit ihrer Premiere 2007 im Theater an der Wien gehört John Neumeiers Choreographie zu den ersten drei Bach-Kantaten ins Repertoire des Hamburg Balletts. Nun hat Neumeier sein Werk nochmals überarbeitet und die ausstehenden Teile hinzugefügt. Herausgekommen ist ein großartiger Ballettabend!

Es sei ihm keineswegs um eine Fortsetzung seiner damaligen Arbeit gegangen, betont Neumeier. Ihm ist wichtig, dass die zwei verschiedenen Fassungen als gleichrangig bestehende Ballette verstanden werden. „Was wir jetzt herausbringen, ist tatsächlich die
Premiere von einem neuen, aus Bachs sechs Kantaten bestehenden Werk.“ Doch unabhängig davon, ob man in der Choreographie eine Überarbeitung und Erweiterung oder ein gänzlich neues Werk sehen möchte, gelungen ist sie über alle Maßen. Dabei sind es dieses Mal vor allem die großen Ensemble-Szenen, die begeistern. Welch eine Präsenz und Präzision, Energie und Eleganz. Neumeier hat ein reiches, komplexes Bewegungsvokabular geschaffen, dem die Tänzer des Hamburg Balletts überzeugenden Ausdruck verleihen. Die vielen raffinierten (und schwierigen) Hebungen, Drehungen und Schrittfolgen gelingen selbst an den extrem schnellen Stellen. Und dabei gibt Alessandro De Marchi, der wie schon in der ersten Fassung am Dirigentenpult steht, ein rasantes Tempo vor. Manchmal könnten sowohl Tänzer als auch Sänger sicher ein paar Momente mehr zum Atem holen brauchen.

Die für Bach typische kompositorische Fülle und Harmonie spiegelt sich eindrucksvoll in der Choreographie wider. Neumeier findet eine stimmige tänzerische Struktur für Bachs ingeniöse Kunst, die verschiedenen Ebenen, auf denen Musik erlebt wird, in einem Werk zusammenzufügen. Es geht Neumeier dabei primär und vor allem um den Dialog von Musik und Tanz. Natürlich gibt es zentrale Rollen und Charaktere, Maria und Josef, der Hirte und die Engel, die drei Weisen und König Herodes, doch im Vordergrund steht die Vermittlung von Emotionen und Stimmungen. Heiterer Jubel und dunkle Beklemmung, zarte Liebe und erdrückende Furcht. Zahlreich sind die allegorischen Anspielungen und Zeichen, die gelesen werden können. Das Greifbare und das Geheimnisvolle kommen zusammen und üben einen ungewöhnlichen Zauber aus.

Ein Kunstwerk für sich ist das Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer. Wenige transparente Trennwände und variable, schiefe Ebenen bilden die wesentlichen Komponenten der ersten drei Teile. Beeindruckend wie sich die Silhouette von Silvia Azzoni, dem Engel, vor dem blendenden Licht, das von einer der Rampen in den Zuschauerraum reflektiert wird, abzeichnet. Neu entwickelt hat Wögerbauer drei wunderschöne, funkelnde Bilder an der Rückseite der Bühne. In ihren artifiziellen Rahmen sehen wir die Weisen aus dem Morgenland, fast folkloristisch anmutend sind ihre Kostüme. Die Sterne leuchten hell über ihnen. Ein Idyll. Doch verlassen sie ihre Bilder und steigen aus den Rahmen herab. Marc Jubete, Sasha Riva und Thomas Stuhrmann sind diese drei Weisen, die den Zuschauer mitnehmen auf ihre Reise.

Auch sonst herrscht allerorts Aufbruch. Schon zu Beginn des Stückes sind die Tänzer, grau ummantelt, mit ihren Koffern unterwegs. Ein verzweifeltes Wohin treibt sie um. Schließlich hat der Kaiser zu einer Volkszählung aufgerufen. Maria und Josef (bei Neumeier „die Mutter“ und „ihr Mann“) gehören zu diesen Menschen, auch sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Anna Laudere, durchgehend barfuß tanzend, versieht ihre Rolle mit einer verhaltenen Expressivität. Und auch Edvin Revazov gelingt der Wechsel zwischen großen Gesten und reduzierten Bewegungen. Feinsinnig und bodenverhaftet.

Unterwegs sein als Motiv. Das gilt auch für den stets präsenten Mann mit der hellen, tief ins Gesicht gezogenen Mütze. Er trägt einen kleinen Tannenbaum mit sich herum und ein Paket. Lloyd Riggins verleiht dieser Figur, die außerhalb der Erzählung steht, Kontur. Immer wieder greift er in das Geschehen ein, nimmt Stellung, positioniert sich. Weder düster noch hell, doch horchend und mit allen Sinnen aufmerksam. Am Schluss reiht er sich sogar in den Tanz mit ein, hingebungsvoll, leidenschaftlich. „Jauchzet, frohlocket“. Dieser zentrale Wechsel, von der Position des zurückhaltenden Betrachters zum inspirierten Akteur bildete schon in der ursprünglichen Fassung einen dramaturgisch wichtigen Moment. Für die sechsteilige Fassung hat Neumeier ihn nun an den Schluss des gesamten Werkes gesetzt. Eine weitere Figur, die außerhalb steht, ist der Anzugträger und König Herodes. Auch er tanzt. Doch allein, seine Umarmung des Partners greift ins Leere. Dario Franconi zeigt einen Monarchen, der erkennen muss, dass seine Krone nur aus Pappe ist. Bei Silvia Azzoni (die einzige auf Spitze) und Alexandr Trusch ist der Glanz indessen himmlisch echt. Sie geben ein wunderbar leichtfüßiges, schwebendes Engelspaar. Und noch viele andere wären zu nennen, Carsten Jung als Hirte zum Beispiel, die hervorragenden Gesangssolisten natürlich sowie, unter der Leitung von Eberhard Friedrich, der Chor der Hamburger Staatsoper. Doch letztlich ist dieser Abend, wie gesagt, eine große Ensembleleistung. Das Lob gebührt allen!

Hamburg Ballett: „Weihnachtsoratorium I-VI“ am 8. Dezember 2013 in der Staatsoper Hamburg. Weitere Vorstellungen: 10., 11., 14., 15., 26. Dezember 2013 sowie 1.1.2014