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Wheeldon09Christopher Wheeldon kocht ein neues Handlungsballett, nach Laura Esquivels mexikanischem Rezepte-Roman von 1989, der in Deutsch „Bittersüße Schokolade“ heißt – und der erste Akt lässt am Erfolg des Menüs zweifeln: Im Grunde ist er eine ausgedehnte, eine sehr ausgedehnte Exposition, von einem Regiekönner inszeniert, auch mit Tanz gespickt, doch mit einer Stunde Dauer so lang wie die zwei folgenden Gänge zusammen, mit vielen rätselhaften Bildern, vollgepackt mit Figuren, Themen und Handlung, getanztes Theater mehr als Tanztheater.

Im zweiten Akt dann aber liegt der Schwerpunkt auf dem Tanz, auf einem wunderbar lyrischen, facettenreich in reinem Tanz sprechenden Duett, gefolgt von einem furiosen Divertissement mit virtuosen Show-Qualitäten, in das handlungstragende Elemente souverän eingewoben sind, mit großem Atem choreographiert. Und dann? Dann kehrt Wheeldon im letzten Akt zur kleinen Form zurück, zu bewegtem Theater und einem langen, intimen Duett. Dieses Duett freilich hat bemerkenswerte Folgen: Am Ende steht die Bühne des Königlichen Opernhauses Covent Garden in Flammen. Und das Publikum mit.

„Como Aqua para Chocolate“ heißt Esquivels Roman „um Liebe, Kochrezepte und bewährte Hausmittel“ im Original und, wortgetreu übersetzt, „Like Water for Chocolate“ in Englisch. Der Titel ist einem alten Rezept entlehnt: Was in Deutsch als „Heiße Schokolade“ getrunken wird, stellten die Azteken her, indem sie dem Wasser erst kurz vor dem Siedepunkt Kakao beigaben. Er meint aber die daraus hervorgegangene mexikanische Redensart „Wie Wasser für Schokolade“, die einen brodelnden Gefühlszustand kurz vor dem Überkochen beschreibt. In diesem Zustand, der sich auch in den Geschichten einiger Nebenfiguren des Romans spiegelt, befindet sich Esquivels Hauptfigur Tita von Jugend an. Ein Opfer unheilvoller Familientraditionen, wird Titas (Gefühls-)Leben im Moment ersten Aufblühens unterdrückt – und erst spät wird Tita sich und ihre Gefühle aus diesem Gefängnis befreien können.Wheeldon10

Esquivels Roman portraitiert einen Frauenhaushalt – Mutter, drei Töchter – in der Zeit der mexikanischen Revolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erzählt von einer großen Liebe und der Kraft der Emanzipation. Der Magische Realismus, zur Erzählzeit des Romans entstanden, ist Esquivels wichtigstes Stilmittel - und so sehr Wheeldon die großen Gefühle des Romans interessieren, so sehr interessieren ihn offensichtlich die Möglichkeiten zur szenischen Umsetzung einer „magischen“ Realität. Von Beginn an ist sein Ballett voller Figuren und Situationen, deren scheinbarer Realismus bald ins Surreale und Fantastische, meist ins Albtraumhafte sich wendet. Etwa gleich im Eröffnungsbild, wenn akkurat über die Breite der Bühne aufgereihte Bräute - in weißen Hochzeitskleidern, aber auch in gruseligen Masken nach Art des mexikanischen „Tages der Toten“ – sich in alte Jungfern in schwarzen Kitteln verwandeln. Die stricken zwar ein malerisches Spitzentuch, sind aber zugleich Sinnbilder einer grausamen Tradition: Tita als jüngste Tochter darf ihr Leben nicht nach eigenem Plan leben, sondern muss bis zu deren Tod ihrer Mutter Helferin, Gesellschafterin und Pflegerin sein.

Wheeldon04Tita aber liebt und wird geliebt, von Pedro. Wie für das Paar in Gabriel Garcia Marquez‘ „Liebe in den Zeiten der Cholera“ wird es für ihre Liebe aber keine rasche Erfüllung geben. Denn Titas Mutter bietet Pedro statt Titas Hand die der älteren Schwester Rosaura an – und Pedro heiratet Rosaura, um Tita nahe sein zu können. Diese Konstellation ist indes nur die Ausgangslage der Geschichte, die in „Como Aqua para Chocolate“ erzählt wird, eine Geschichte über drei Familiengenerationen hinweg, überreich an Personen, lebenden wie toten, und überquellend vor Geschichten in der Geschichte. Sie alle – alle – erzählt auch Wheeldon. Das ist gleichermaßen Herausforderung und Hemmnis seines neuen Werkes.

Selbst eine unvollständige Skizze nur der wichtigsten weiteren Personen und Ereignisse lässt das tanzerzählerische Wagnis ahnen: Die konservative Rosaura wird zwei Mal Mutter werden (aber Tita die Erzieherin des überlebenden Kindes) und von ihrer Tochter den Verzicht auf ein selbstbestimmtes Leben und Gehorsam gegenüber der Familientradition einfordern. Die dritte Schwester, Gertrudis, wird sich dieser Tradition entziehen, wird sich sexuell befreien und an der Seite eines Revolutionärs in den politischen Kampf ziehen. Die alte Köchin Nacha wird Titas Mentorin in Gefühlsdingen werden – und auch nach ihrem Tod bleiben. Tita wird Nachas Rezepte in magische Erfahrungen verwandeln, üble wie wohltuende, für all jene, die davon kosten. Sie wird einen neuen Verehrer finden, Jahre in Texas leben und dennoch auf die Familienranch nach Mexiko zurückkehren. Und die Mutter und Familientyrannin Elena, eine andere Bernarda Alba und der böse Geist der Tradition, der im Leben wie im Traum die Töchter heimsucht, wird schließlich doch gebannt werden und, nach dem Fund ihrer Tagebücher, die ihr eigenes unterdrücktes Gefühlsleben offenbaren, Absolution ausgerechnet durch Tita erfahren.Wheeldon03

Ob all das – und mehr – Wheeldon in sein Konzept aufgenommen hätte, unterläge „Como Aqua para Chocolate“ nicht mehr dem Urheberrecht? Dass er das Wagnis eingegangen ist, spricht für ihn und seinen Willen, der Ballettbühne Themen und Erzählungen hinzuzugewinnen, die über die ballettüblichen großen Emotionen und ihre kleinen, oft un-sagbaren Feinheiten hinausweisen. Doch seine Ballettfassung von Esquivels Roman ist nichts, das auch unvorbereitete Besucher genießen könnten: Wer erst nach dem ersten Akt die umfangreiche Inhaltsangabe, die Hinweise zu den Figuren und ihren Beziehungen zueinander liest und nicht den Roman oder wenigstens Alfonso Araus Film von 1992 kennt, ist schon verloren. Alle anderen sehen, was sie wissen – und sehen, mit Gewinn, das nicht rundum, aber in großen Teilen gelungene Werk eines jungen Meisters des Erzählens mit den Mitteln des klassisch fundierten Tanzes.

Wheeldon07Seit Wheeldon 2004 für das Pennsylvania Ballet erstmals ein abendfüllendes Ballett inszenierte - „Schwanensee“ mit einer neuen Rahmengeschichte –, hat er sich mit weiteren eigenen Versionen von Klassikern („Cinderella“ 2012 für das Niederländische Nationalballett, „Der Nussknacker“ 2016 für das Joffrey in Chicago) und mit nunmehr drei neuen Handlungsballetten für das Royal Ballet handwerkliches Können erarbeitet, das ihn bereits mit 49 Jahren als einen großen Könner des Genres ausweist. Dass es ihm dabei nicht um die Anbetung der Asche geht, zeigen seine Klassikerinszenierungen, die jeweils von einer individuellen Sicht auf das Erbe geprägt sind, zeigen seine abendfüllenden Neuschöpfungen für London – und zeigte 2014 übrigens auch bereits seine erste von inzwischen drei Musical-Produktionen, eine Bühnenfassung des Hollywood-Musicals „Ein Amerikaner in Paris“, das er nicht lediglich nacherzählte, sondern dem er durch einen eigenen Fokus auf die Familiengeschichte der weiblichen Hauptfigur zusätzliche emotionale Tiefe gab. Wheeldon ist mithin auf dem besten Weg, zu dem Schöpfer neuer abendfüllender Ballette unserer Tage und darin ein, vielleicht der Nachfolger John Neumeiers zu werden (der übrigens noch in diesem Monat, zur Eröffnung seiner vorletzten Ballett-Tage, Wheeldons „The Winter’s Tale“ in das Hamburger Repertoire aufnehmen wird).Wheeldon05

Davon, wie gekonnt Wheeldon das Handwerk choreographischen Erzählens beherrscht, zeugt nun auch „Like Water for Chocolate“, eine Koproduktion des Royal Ballet und des American Ballet Theatre. So groß die Zahl der Figuren und Handlungsstränge: Wheeldon vermag mit wenigen Bewegungen die unterschiedlichen Charaktere zu skizzieren und klar und theaterwirksam das rasante, vielschichtige Bühnengeschehen zu inszenieren. Und er hat sich für sein drittes neues Handlungsballett für das Royal Ballet erneut mit dem Team zusammengetan, das schon die erfolgreichen Inszenierungen nach Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“ (2011) und Shakespeares „The Winter’s Tale“ (2014) mit verantwortete: mit dem Komponisten Joby Talbot, dem Ausstatter Bob Crowley und der Lichtgestalterin Natasha Katz.

Wheeldon08Crowley und Katz schufen für „Like Water for Chocolate“ eine sonnendurchflutete, Cinemascope-breite Szenerie, die in warmen, erdigen Terrakottafarben die Weite und Hitze Mexikos nachempfindet. Mit Licht und wenigen Akzenten und Versatzstücken – ein Tisch, Stühle, ein Baum, Girlanden, eine angedeutete Bergkette mit glühenden Spitzen, Vorhänge aller Breiten, Höhen und Hängepositionen – zaubern sie stimmungsvolle Landschaften wie beklemmende Innenräume und ‘mal mit Videoprojektionen, ‘mal mit klassischen Theatermitteln visuell überwältigende Momente – in rasend schneller Szenenfolge.

Weniger spezifisch hört sich Talbots Musik an, obschon sie es der Sache nach zweifellos ist. Talbot nutzt, beraten durch die mexikanische Dirigentin der Uraufführung, Alondra de la Parra, ein Vademekum mexikanischer und lateinamerikanischer Tänze, Rhythmen, Klangfarben und Instrumente (Orchestrierung: Ben Foskett), stellt dem Orchester des Royal Opera House den mexikanischen Solo-Gitarristen Tomás Barreiro an die Seite und reichert die Musik zu Titas und Pedros Schlussduett um gesungene Verse aus Octavio Paz‘ „Sonnenstein“-Poem an. So schafft er eine Partitur, die stets „passt“, nie eintönig ist, mitunter an impressionistische Tongebilde erinnert, mitunter an romantischen Gefühlsüberschwang, die den Fiestas auf der Bühne gehörig Dampf macht und den Totenfeiern und Geistererscheinungen auf düsteren Klangteppichen den Boden bereitet – aber (und das mag in der musikalischen Tradition Lateinamerikas erfahreneren Hörern durchaus anders ergehen) keinen Moment lang packt die Musik einen an, keine ihrer Melodien klingt über den Moment ihres Erklingens nach.Wheeldon06

Wheeldons Choreographie verbeugt sich in Titas Duett mit ihrem Verehrer Dr. Brown viele kostbare Momente lang vor Ashtons Meisterschaft der Charakterzeichnung und Erzählung in wenigen, zarten, zugleich prägnanten Strichen, kulminierend in exquisiten Hebungen, und stellt an anderer Stelle die körperlicheren der diversen Leidenschaften des Bühnenpersonals in geradezu MacMillan‘scher Drastik dar. Ganz bei sich ist sie aber in den Gruppentänzen und in der Gestaltung der Hauptpersonen, die in neoklassischer Sprache ihre Liebe feiern und in expressiv gebrochenen, zehrenden, bedrückenden Bewegungen und Posen ihr Leiden und ihre Verzweiflung heraustanzen. Eine offensichtliche Freude hat Wheeldon an starken Schau- und Theatereffekten, wie er sie etwa in der Karikatur der in dämonischer Überlebensgröße von den Toten wiederauferstehenden Mutter anwendet. Oder – mit ironischem Unterton – in der erotisch aufgeladenen Szene libidinöser Überwältigung, die Getrudis dem von Tita zubereiteten Hochzeitsessen „Wachteln in Rosenblättern“ verdankt und sie und ihren sinnenverwandten Revolutionär auf dem Rücken eines Pferdes im Liebesakt vereint und so aus dem Familiengefängnis fliehen und in den Sonnenaufgang des politischen Kampfes ziehen lässt. Und natürlich im Schlussbild, in dem Tita und Pedro, endlich frei von den Geistern der Tradition, ihre Liebe zelebrieren und – wir sind im Reich des Magischen Realismus – sich und mit sich die gesamte Bühne des Royal Opera House in Flammen aufgehen lassen.

Wheeldon02Die Hauptrollen in „Like Water for Chocolate“ gehören den jüngeren Solistinnen und Solisten des Royal Ballet, auch in den weiteren Besetzungen. Am Abend der Uraufführung, den das Publikum ungeachtet der Verunsicherung der ersten Hälfte heftig bejubelte, zeigte Francesca Hayward ihre herausragenden Fähigkeiten als tanzende Schauspielerin, mit denen sie der Jugend Titas so überzeugend Gestalt zu geben vermag wie dem Portrait der Wut und Verzweiflung und schließlich der Abgeklärtheit Titas, mit der sie sich am Ende von allen Fesseln befreit. Marcelino Sambé, jung, kraftvoll, viril, schön, gibt seinem Pedro hinreißend ungestüme Züge – und zusammen sind Hayward und Sambé ein tänzerisch wie darstellerisch makelloses Paar. Laura Morera darf als Mutter Elena Carabosse-gleich böse sein. Matthew Ball ist als Dr. Brown die feinnervige Eleganz in Person, Cesar Corrales ein auftrumpfend tanzender Revolutionär. Und als Schwestern Rosaura und Gertrudis liefern Mayara Magri und Anna Rose O’Sullivan kleine, feine Studien zwischen Drama und Komödie.Wheeldon01

Insgesamt: Ein thematisch spezielles, erzählerisch ambitioniertes, dem Massengeschmack eher abholdes, eben deshalb sehenswertes neues Handlungsballett, aufwändig in Szene gesetzt, grandios getanzt. Und nicht zuletzt ist „Like Water for Chocolate“ auch dies: Die jüngste Bestätigung der führenden Rolle, die sich das Royal Ballet seit 2011, damals noch unter Monica Masons, jetzt unter Kevin O’Hares Leitung, in Sachen neuer abendfüllender erzählender Ballette erarbeitet hat, nämlich mit sechs neuen Werken in elf Jahren, alle zu Auftragskompositionen entstanden. Der Alleinstellungsmerkmale nicht genug, repräsentieren diese Werke – von Wheeldon, von dem tragisch früh gestorbenen Liam Scarlett („Frankenstein“), von Wayne McGregor („Woolf Works“, „The Dante Project“) – auch eine faszinierende stilistische und ästhetische Bandbreite, von Wheeldons und Scarletts traditionellen bis zu McGregors avantgardistischen Herangehensweisen in Bezug auf Inhalt, Erzählstruktur, Erzähltechnik, Bewegungssprache und gestalterische Mittel. Welch eine Bilanz für das Royal Ballet, welch ein Gewinn für das Ballett an sich – und dabei sind die weiteren Werke, die Wheeldon, Scarlett und McGregor bei anderen Kompanien schufen oder gerade schaffen (im November hat McGregors abendfüllendes „MaddAddam“ nach Margaret Atwood Uraufführung in Toronto) nicht einmal mitgezählt.

Das Handlungsballett ist tot? Von gestern? Man schaue nach London und staune!

The Royal Ballet: „Like Water for Chocolate“ von Christopher Wheeldon, Uraufführung am 2. Juni 2022 im Royal Opera House Covent Garden, London. Letzte Vorstellung in dieser Saison am 17. Juni 2022. Im Januar 2023 in Kinos weltweit. www.roh.org.uk

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