Hauptkategorie: Wiener Tanzgeschichten

01 TengerWachsmuthEin Besuch der Ausstellung „body luggage. migration of gestures“ im Kunsthaus Graz gibt zum einen die Möglichkeit, einige Persönlichkeiten der Wiener Tanzgeschichte einem an bildender Kunst interessierten Publikum näher zu bringen, zum anderen mit Simon Wachsmuth einem Medien- und Konzeptkünstler aus dem bislang kleinen Kreis jener künstlerischen Grenzgänger zu begegnen, denen es gelingt, bei ihren genreüberschreitenden Wegen Grenzen nicht nur in ihren Werkkonzepten zu wechseln, sondern diesen Gang dem Betrachter auch bewegungsmäßig sichtbar zu machen.

Für Tanzinteressierte ist die im Rahmen des steirischen herbst von Zasha Colah kuratierte Ausstellung von mehrfacher Bedeutung: Sie widmet sich jenem Körperwissen, das diejenigen in sich tragen, die ihre Heimat zu verlassen hatten; sie geht des Weiteren – etwa am Beispiel der bekannten Wiener Tänzerin Hilde Holger (Wien 1905–2001 London) – jenen Spuren nach, die die Vertriebenen in einem neuen Umraum mit Hilfe des mitgetragenen „Körpergepäcks“ hinterlassen haben. 1939 zum Verlassen der Heimat gezwungen, fand Holger zunächst Zuflucht in Indien, ehe sie sich zehn Jahre später in England niederließ. In den fünf Jahrzehnten ihres choreographischen Schaffens als Migrantin – und einer noch längeren Zeitspanne als Pädagogin – hat sie immer wieder auf jenes Körpergepäck zurückgegriffen, das sie bei ihrer Flucht aus Wien mitgenommen hat.02 Holger

Die Ausstellung zeigt aber auch eine ganz besondere Koinzidenz: Der bildende Künstler Simon Wachsmuth, der Werke wie „the things which I have seen, I now can see no more“ (2006) oder „Raum für Archive – wissen, speichern, nutzen“ (2013) geschaffen hat und nun eingeladen wurde, über den Zustand des Tragens von Körpergepäck zu reflektieren, tut dies an Hand seiner eigenen Familie! Dass der Nachfahre von gleich vier entweder in Wien geborenen oder hier sesshaft gewordenen Tanzschaffenden – seine Großmutter Gertie Tenger (Wien 1905–1985 Wien), sein aus Dresden stammender Großvater Werner Wachsmuth (1894-1953) sowie seine Großtanten Dita Tenger (Wien 1903–1942 Shanghai) und Ellinor Tordis (eigentl. Wachsmuth, Dresden 1895–1973 Wien) – dies noch dazu mit einer Choreographie tut, kann als das ganz Besondere der Ausstellung angesehen werden.

So sehr jedoch diese gewählte Form des Nachdenkens – neben einigen ausgestellten photographischen Dokumenten geschieht dies mittels einer Videoinstallation – überrascht, so schnell – denkt man an das ererbte Körpergepäck, das Simon Wachsmuth selbst trägt – relativiert sich diese Überraschung und macht der Verwunderung Platz, warum Wachsmuths künstlerischer Weg ihn nicht geradewegs zu Tanz und Choreographie geführt hat. Wie beschaffen ist also das Körpergepäck von Simon Wachsmuth, wer waren die tänzerisch Schaffenden seiner Familie? Was trägt er künstlerisch mit sich? Und: In welcher Weise transformieren sich die Körpergesten, die nicht nur Zeit und Ort, sondern auch die Kunstgattung wechselten?

Zunächst und ganz allgemein: Wachsmuth ist durch seine Familie Träger der Reformideen um 1900! Dies deswegen, weil alle vier genannten Familienmitglieder als Vertreter des Freien Tanzes völlig in diesen Reformideen verankert waren. (Ein Großonkel, ein Bruder von Werner und Ellinor, der Anthroposoph und Schriftsteller Guenther Wachsmuth [Dresden 1893–1963 Dornach], war enger Mitarbeiter Rudolf Steiners.) An den einzelnen Mitgliedern der Familie kann auch erläutert werden, welche ganz verschiedenen Ausprägungen des Freien Tanzes sich aus den Reformideen entwickelten.

03 TordisAufbruch in Wien

Beginnen wir mit Ellinor Tordis, der Schwester von Simon Wachsmuths Großvater. Die Anfang der Zwanzigerjahre nach Wien Gekommene, wuchs hier zu einer wesentlichen Erscheinung der Wiener freien Tanzszene. Sie hatte ihre Erziehung in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf (bei Saalfeld in Thüringen), somit in einer reformpädagogischen Lebensschule erhalten. Teil des Konzepts der Landschulbewegung war es, den Körper für das Leben zu bilden. Diese „Körperbildung“ widmete sich insbesondere der Erforschung der Funktionalität des Körpers, der, solcherart ertüchtigt, in weiterer Folge „ganzheitlich“ für das alltägliche Leben ebenso wie für die Arbeit am Theater gerüstet war. Den Weg zum Theater schlug Ellinor Tordis ein: Sie studierte in München Tanz bei Alexander Sacharoff und Magda Bauer und wurde Mitglied von Bauers „Münchener Tanz-Drei“ sowie des Ellen Petz-Kainer-Balletts, mit dem sie 1921 im Deutschen Volkstheater ihr Wien-Debüt gab (zu den Mitwirkenden zählte neben Petz auch Sascha Leontjew, der später dem Wiener Staatsopernballett vorstand). Tordis blieb in Wien, studierte hier weiter bei Ellen Tels und tanzte als Mitglied ihres Ensembles 1921 im Wiener Konzerthaus. Schon 1922 gab Tordis in der Secession ihren ersten eigenen Tanzabend. Während der nächsten zwei Jahrzehnte erwarb sie sich durch viele weitere solistische Auftritte im In- und Ausland (u. a. in Berlin, Budapest und Paris) sowie mit der in ihrer eigenen Schule herangebildeten Tanzgruppe (mit der sie u. a. 1930 beim Münchner Tänzerkongress zu sehen war und die sie 1949 noch einmal für das Bewegungsdrama „Schöpfungsmythos“ aktivierte) hohes Ansehen. Mit ihrem immer wieder gerühmten ausgeprägten Musikverständnis war sie wohl die Idealbesetzung für ihre in den Fünfzigerjahren ausgeübte Funktion einer Bewegungslehrerin für die Dirigentenklasse an der Akademie für Musik und darstellende Kunst.04 SchuleTordis

Die Theaterstadt Wien ist erfasst von der kreativ brodelnden Unruhe der jungen Kunst des Freien Tanzes, der – hier großteils von jüdischen Frauen getragen – nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gleichsam losbricht. Sein vielbeachtetes Agieren ist allenfalls mit jener elektrisierenden Wirkung zu vergleichen, die von den Auftritten der russisch/sowjetischen Theateravantgarde ausgeht. Teil dieses Aufbruchs der freien Tanzszene ist Gertie Tenger. Aus bürgerlichem jüdischem Haus stammend – der Adoptivvater Ignaz Tenger besitzt einen Verlag und ist Herausgeber des 1908 zum 60-jährigen Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph I. erschienenen „Österreichischen Bürgermeister-Almanach“ –, begann sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu studieren. Gemäß dem geistigen Fundament des neuen Tanzes studierte man auch in Wien nicht „Tanz“ allein, sondern „Körperkultur“, „Gymnastik“ sowie „künstlerischen Tanz nach dem System Delsarte“.

12 TelsTenger tut dies bei einer wahrhaft singulären Persönlichkeit: die Deutsch-Russin Ellen Tels. Als eine auch in Mitteleuropa bekannte Vertreterin der Lehren von Elizabeth Duncan sowie von François Delsarte, war sie neben ihrer Tätigkeit als Tänzerin und Leiterin eines Tanzensembles auch als Bewegungslehrerin für Stanislawski und Meyerhold tätig gewesen. (Dies bedeutet, dass zu Simon Wachsmuths Körpergepäck auch jene Mittel gehören, mit denen sowohl Stanislawski als auch Meyerhold arbeiteten.) Nach ihrer Flucht aus der Sowjetunion hatte Tels in Wien in den Räumen des Hagenbunds, das heißt also innerhalb einer Vereinigung bildender Künstler, eine Schule eröffnet. Eine weitere Lehrerin Gertie Tengers war die inzwischen in Wien sesshaft gewordene Ellinor Tordis. Als ob die Schwestern Tenger die Fülle des damaligen „freien“ Lehrangebots zu einem Ganzen fügen wollten, wandte sich Dita Tenger jenen Lehren zu, die Gertie anscheinend weniger beachtet hatte. Es waren dies die Rhythmische Gymnastik von Jaques-Dalcroze sowie, durch ein Studium bei Gertrud Bodenwieser, expressiv-theatralische Formen des neuen Tanzes. Dita gehörte zu den ersten Bodenwieser-Schülerinnen, sie trat schon 1921 mit ihrer Gruppe im Konzerthaus auf. Im Jahr darauf gab sie mit ihrer eigenen Tanzgruppe einen Abend, dem weitere folgten, wobei sich Dita – auch in den eigenen Schulen in der Taborstraße und der Hietzinger Altgasse – auf die Arbeit mit Kindern spezialisierte. (Der Kartographie der Wiener Ausbildungsschulen des Freien Tanzes muss eine eigene Arbeit gewidmet sein.) Mit den von ihr geschulten Kindern brachte Dita getanzte Märchen in Wiener Volksheimen heraus. Seit dem Ende der Zwanzigerjahre lebte sie mit ihrem Ehemann in Shanghai.05 Programm

Der Freie Tanz erzwingt einen Paradigmenwechsel in der Theaterlandschaft Deutschlands

06 PortraitTengerGertie Tengers Wiener Karriere beginnt vielversprechend. Nach Mitwirkungen in Veranstaltungen im Volksbildungshaus Wiener Urania, tritt sie 1924 bei einem Tanzabend von Ellinor Tordis gemeinsam mit Tordis auf, tanzt aber auch schon in eigenen Choreographien solistisch und mit Hans Renjeff (das ist Hans Wiener, der sich, nach Amerika geflüchtet, dort Jan Veen nannte). Dann geschieht etwas ganz Außerordentliches: Vera Skoronel, die trotz ihrer jungen Jahre – sie ist erst achtzehn – als die spektakulärste Nachwuchshoffnung des Freien Tanzes in Deutschland gilt, kommt nach Wien (sie ist durch ihren Vater, den berühmten Reformpädagogen Rudolf Lämmel, wienstämmig), um hier Mitglieder für ihr neues Ensemble zu rekrutieren. Diese Truppe soll nicht einfach ein weiteres modernes Tanzensemble sein, sie soll vielmehr innerhalb eines Dreispartentheaters einen eigenen und autonomen Status erhalten. (Schon vor 1924 hatten Freie Tänzer in den etablierten Theatern reüssieren können, sie hatten aber auch noch jene Aufgaben zu erfüllen, die davor dem Ballettensemble überantwortet waren.) Skoronel war also für diesen Neustart ausersehen, in Wien engagierte sie nun – neben der Tels-Tänzerin Mila Cirul und ihrer Schwester Elia sowie Lea Bergstein – Gertie Tenger. Tenger war somit Teil einer ganz neuen Bewegung. (Lea Bergstein übrigens zählte – neben Margalit Ornstein und ihren Töchtern Judith und Shoshana – zu jenen Tänzerinnen, die noch in den Zwanzigerjahren nach Palästina auswanderten, jedoch für kurze Zeit nach Wien zurückkehrten, um sich hier weiterzubilden.)07 Tanzspiel

In der Saison 1924/25 ist Gertie Tenger also Tänzerin an den Städtischen Bühnen Oberhausen-Hamborn-Gladbeck. Skoronel, die, wie Artur Michel es formuliert, „eine selbständige, dem Gespenstischen und Exotisch-Grotesken zugeneigte Tanzphantasie hat“, erweist sich als „ungewöhnlich erfindungsreiche Tanzregisseurin“. In zusätzlichen Kammertanzabenden führt Tenger mit ihrem späteren Ehemann Werner Wachsmuth in eigener Choreographie das Duo „Marionettenstil“ zu Xylophon- und Triangelbegleitung aus. Die Kritik attestiert dem Tanzpaar „hochstehendes Können und eigenartige Phantasie“, Wachsmuths musikloses Solo „Zwischen zwei Polen“ wird als eine „ganz dämonische Expression“ empfunden. Trotz des großen Erfolgs scheitert das „Experiment Oberhausen“ an der wirtschaftlichen Lage. Nach nur einer Spielzeit wird die Konstruktion des Drei-Städte-Theaters – und damit die Tanzgruppe – aufgelöst.

08 TengerWachsmuthTenger und Wachsmuth tanzen in den folgenden Saisonen (1925/26 bis 1927/28) an den Vereinigten Stadttheatern Duisburg-Bochum. Die Leitung des Bühnentanzes haben dort die Wigman-Schülerin Aenne Grünert, ab 1927 der Laban-Schüler Julian Algo inne. So aktuelle Titel wie „Petruschka“, „Pulcinella“, „Barabau“ und „Der Leierkasten“ oder die „brandneue“ „Tragödietta“ des Österreichers Max Brand scheinen in den Spielplänen auf. 1928 wechselt Tenger als Solotänzerin an das Hessische Landestheater Darmstadt, Tanzmeisterin ist die bei Wigman ausgebildete Cläre Eckstein. In der Saison 1929/30 ist Tenger im Stadttheater Mainz selbst Tanzleiterin – die von Alfred Schlee geleitete Zeitschrift „Schrifttanz“, die gerade die Drucklegung der Kinetographie Laban (Labanotation) vorbereitet, berichtet von einem „starken Publikums- und Presseerfolg“, den die Wienerin mit ihren „Tänzen nach Volksmusiken“ erzielte.10 Tenger02

Die zunächst von den anderen Körperschaften angefeindete Arbeit der Freien Tänzer an den Theatern vermochte die bis dahin herrschende, noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Ästhetik völlig zu ändern. Im Fokus der Regie stand nun – für alle Genres, sei es nun Oper, Sprechtheater oder Operette – die Bewegung, die sich dazu eine neue Nähe zur bildenden Kunst erobert hatte. Auch diese Merkmale trägt Simon Wachsmuth als Körpergepäck mit sich.

09 WachsmuthIn Wien: Ein letztes Aufblühen der Szene

Es war wohl ein Zusammenwirken von politischen und privaten Gründen, die Gertie Tenger und Werner Wachsmuth nach Wien gehen ließen. Mit der Gestaltung eines Programms für die Tanzschule der Ellen Tels-Schülerin Hertha Schüch am Stadttheater Baden taucht der Name Tenger 1931 wieder in der heimatlichen Tanzszene auf. 1932/33 tanzt sie in Programmen der „Blauen Truppe“ in Choreographien von Gisa Geert und Fritz Klingenbeck. Wichtiger noch ist wohl ein 1933 für den Wiener Volksbildungsverein gestalteter „Moderner Ballettabend“, der Choreographien von Tenger, Gertrud Kraus und Geert vereint. Auf Tengers „Kleine Dreigroschenmusik“ zu Musik von Kurt Weill folgt am selben Abend die Uraufführung von Kraus‘ „Die Stadt wartet“ (Marcel Rubin). Nach einem Programm „Tänze und Pantomimen“ 1933 für die Wiener Urania nimmt Tenger 1934 am Internationalen Tanzwettbewerb in Wien teil und erhält für „Ein häusliches Ballett“ (Beethoven) eine Goldmedaille für Gruppentanz und eine Porzellan-Plakette der Archives Internationales de la Danse. Mit einer aus 89 Schülerinnen bestehenden Gruppe wirkt sie 1935 beim Festspiel „Wien bleibt Wien“ im Wiener Stadion mit. 11a GruppeTenger

Diese Veranstaltung, die Stadt und Heimat verherrlicht, ist bereits Resultat einer veränderten künstlerischen Landschaft, das Programm widerspiegelt die politische Situation, die bislang weitgehend ausgeklammert bleiben konnte. Seit 1933, seit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Deutschland, sind die deutschen Schatten in Form von Ideologie aber auch von Schlägertrupps in Wien zu spüren. Der unter der Oberfläche mühsam unterdrückte Antisemitismus kann sich nun schon offiziell in die Öffentlichkeit wagen. Die künstlerische Vielfalt des Freien Tanzes wird geglättet, sein „Biss“ verschwindet mit den Choreographinnen, die das Land verlassen, seine Wirkung gleitet mehr und mehr in das Lob der Heimat Österreich ab. (So etwa in Margarete Wallmanns – einst Stellvertreterin Mary Wigmans in Berlin – Arbeiten für die Wiener Staatsoper. Wallmann, auch sie jüdischer Herkunft, hat das Glück, sich beim „Anschluss“ an Deutschland 1938 im Ausland zu befinden. So entgeht sie jenen verbalen Attacken, die man der so Erfolgreichen hinterherruft. So soll sich ein Solist des Ensembles geäußert haben, er hätte sie, Wallmann, aus dem vierten Stock [wo sich die Ballettsäle befinden] auf den Knien hinunterrutschen lassen, um sie solcherart aus der Oper zu werfen.)

11 gertrudKrausGertie Tenger und Ellinor Tordis arbeiten (noch) weiter. 1933 präsentiert Tordis einen Kammertanzabend im Rahmen der Hagenbund-Ausstellung „Der Tanz“, im selben Jahr nimmt sie am Internationalen Wettbewerb für künstlerischen Tanz in Warschau teil. 1934 ist sie Jury-Mitglied des Internationalen Tanzwettbewerbs in Wien, 1937 bringt sie mit ihrer Tanzgruppe Mozarts „Les Petits riens“ in Versailles heraus. 1938 zeigt sie in dem Hofburg-Programm „Im Rhythmus der Jahrhunderte“ mimisch-tänzerische Studien, 1943 gibt sie ihren letzten Solotanzabend im Konzerthaus.

Während Gertie Tenger es gelingt, die Nazizeit in einem Versteck zu überleben und sich im letzten Kriegsjahr der Widerstandsbewegung anzuschließen, werden ihre Mutter und der Adoptivvater 1942 deportiert und ermordet.13 Bodenwieser

Und das weitere Schicksal der Lehrerinnen von Dita und Gertie Tenger? Ellen Tels hatte bereits 1927 Wien verlassen, sie übersiedelte nach Paris, wo sie fortan eine Schule leitete. Sie starb 1944. Gertrud Bodenwieser gelang es 1938 mit einem Teil ihrer Tanzgruppe nach Kolumbien zu entkommen. Über Neuseeland gelangte sie 1939 nach Australien, wo sie auf die Kerntruppe ihres Ensembles traf und bis zu ihrem Tod 1959 künstlerisch und pädagogisch wirkte. Sie kehrte nie wieder in ihre Heimat zurück. Ein beklemmendes Dokument der österreichischen „Vergessenskultur“ nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich erhalten. Ein an Bodenwieser per Adresse ihrer ehemaligen Wirkungsstätte, der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, gerichteter Brief kam mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ zurück an den Absender.

„Where we were then, where we are now”

Dieser Titel einer Installation Simon Wachsmuths aus dem Jahr 2007 beschäftigt sich mit jenen Fragen, die auch heute in der Tanzwissenschaft im Zentrum des Interesses stehen. Wo stand der Tanz zur Zeit der Großelterngeneration des Simon Wachsmuth? Wie steht man heute dazu? Was wird mit-, was weitergetragen, was ist abgestreift, was ging verloren, durch äußere Umstände, durch eigenen Willen? Und schließlich: Gibt es in der Gegenwart verbleibende Materialien? Wie würde also Wachsmuth, der ganze Koffergarnituren an Körpergepäck mit sich trägt, auf Fragen solcher Art reagieren?
 
14 TengerHesseSchon der Titel seiner Arbeit „Qing“, ein Film den Wachsmuth zusammen mit Loulou Omer für die Ausstellung „body luggage“ des steirischen herbst 2016 produziert hat und „Dita and Gertie Tenger“ gewidmet ist, spielt auf chinesische Materialien und damit auf „materielle Spuren“ an, die sich in Familienbesitz befinden und nun aus der Vergangenheit geholt werden. Der Film erzählt von einer Frau, die in einem unbegrenzten Raum ganz offenbar in Gewänder der Erinnerung schlüpft. Sie tut dies am Boden liegend in langsam fließender, kontinuierlicher Vorwärtsbewegung. Die Kamera und eine zweite Projektionsfläche erlauben dabei verschiedene Blickwinkel, der Blick von oben wechselt mit einer Seitensicht, close-ups konzentrieren sich auf den Köper oder auf Materialien der Gewänder, fremdländische Kostbarkeiten, die, genau besehen, ihre verschiedenen Strukturen sowie die erlesene Farbgebung preisgeben. Erinnerungsebenen gleich, entfalten sich Schicht um Schicht der ausgelegten Kleidung. Wie in einem Ritual wird in gemessener Bewegung ein erstes Gewand angelegt und wieder abgestreift. Mit einem Mal finden sich – ungeordnet – Teile eines chinesischen Teeservices in dem sonst leeren Raum. Die Frau bewegt sich windend weiter, bis sie ein zweites Gewand findet. Die äußerste Sorgfalt, mit der sie dieses entfaltet, entspricht seiner Kostbarkeit. Das Teeservice findet sich wieder. Bekleidet und nunmehr aufgerichtet, reiht die Frau die Tassen um sich, schenkt Tee ein und beendet das Ritual mit einem Blick auf den Betrachter.14 Omer

Die würdevolle Ausstrahlung, sowohl der Interpretin Loulou Omer (die aus Tel Aviv stammende Tänzerin und Choreographin ist die Tochter einer Schülerin der 1935 nach Palästina ausgewanderten Gertrud Kraus) als auch des Films selbst, in dem Wachsmuth einmal mehr „das Verhältnis von materiellen Spuren, musealen Repräsentationen und Formen ihrer Indienstnahme in der Gegenwart“ befragt, erinnert an eine Kritik eines Abends von Ellinor Tordis aus dem Jahr 1925. Da heißt es, ihr Tanz ist „einfach, edel, getragen, reif, kühl … durch und durch Harmonie des Körpers und des Bewegungsflusses“.

Die Ausstellung „Body Luggage. Migration von Gesten“ ist noch bis 8. Jänner 2017 im Kunsthaus Graz zu sehen.