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Uhlich KommentarDie Welt gedenkt dieser Tage des großen Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der vor einem Jahr verstorben ist. Der Pionier des Originalklangs forschte sein Leben lang unermüdlich danach, wie sich die Musik in ihrer Entstehungszeit angehört hat. Den konträren Ansatz verfolgte die Eröffnungsproduktion des Festivals Imagetanz „The Inheritance“, das dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert. Hier werden vergangene Stücke dem aktuellen Zeitgeist geöffnet und neu interpretiert. Doch warum gerade jetzt der Blick zurück?

Der Verweis auf Harnoncourt mag anmaßend klingen. Es soll in diesem Zusammenhang jedoch als Beispiel für unterschiedliche Haltungen gegenüber dem „kulturellen Erbe“ dienen. Künstler, die sich mit der Tradition vergangener Epochen beschäftigen, haben an seiner Gültigkeit nie gezweifelt. Immer wieder haben sie durch ihr jahrzehntelanges musikalisches Training der überlieferten Musik neue Facetten entlocken und in eine neue zeitliche Gültigkeit stellen können.

Auf der anderen Seite haben sich Künstler im letzten Jahrhundert daran gemacht, vorangegangene Positionen radikal zu hinterfragen bzw. zu zertrümmern. Das Kunstschaffen hat sich immer weiter von traditionellen Formaten und von seiner Geschichte entfernt.

Der zeitgenössische Tanz steht im Sinne der ikonoklastischen Kunstauffassung heute an vordester Stelle. In Europa hatte er seine Wurzeln im Zweiten Weltkrieg verloren. Nur einzelne Vertreter des Freien Tanzes führten ihre künstlerische Tätigkeit danach (in Europa) weiter fort. Oft war der Interpret / die Interpretin gleichzeitig ChoreografIn und daher eine Weitergabe der Werke nicht vorgesehen. Zwar würde eine Auseinandersetzung mit Tanzgeschichte eine reiche Tradition offenbaren, doch es fehlt das Testament dafür. In einer Kunst ohne Text und ohne Noten, in der das Wissen von Generation zu Generation mündlich bzw. körperlich weitergegeben wird, ist das schriftliche Vermächtnis zweitrangig. Statt dessen hat man sich auf theoretische Spielarten eingelassen, die zwar vom Objekt des Tanzes, dem Körper, sprechen, ohne ihn jedoch als Instrument der Kunsttradition zu verstehen. So wurde die Kunstform, die lange Zeit ignoriert und/oder unterschätzt wurde, immerhin auch in Intellektuellen-Kreisen hoffähig. Dass zum Tanz auch Bewegung gehört, wird in diesen Diskussionen weitgehend ausgeklammert.

Aufgrund seiner Geschichtslosigkeit und Nicht-Reproduzierbarkeit sehen Manche im zeitgenössischen Tanz, oder besser, in der „Performance“ die Bastion einer antikapitalistischen Haltung schlechthin. Diese Ideologie überdeckt aber die Tatsache, dass die „kapitalistischen“ Zwänge bei zeitgenössischen Choreografen der freien Szene ohne feste Bindung an ein Haus noch brutaler zu Buche schlagen als in etablierten Institutionen. Der Kulturbetrieb (sprich: Subventionsgeber, sprich: Veranstalter) verlangt in der Regel mindestens einmal pro Jahr ein neues Stück – sonst riskiert man Subventionsentzug und/oder in Vergessenheit zu geraten. Nur wenige können sich diesem Produktionsdruck entziehen, oft reicht das kreative Potenzial beziehungsweise die künstlerische Grundlage nicht aus, um das lange durchzuhalten. Andere wiederum produzieren auf Teufel komm raus unwiederholbare Stück(chen).

Jedenfalls will auch der Kurator des imagetanzfestivals Jacopo Lanteri seine Aufforderung an Künstler, sich mit ihren früheren Werken auseinander zu setzen, um Himmels Willen nicht als Versuch zu einem „reaktionären“ Geschichtsbewusstsein verstanden wissen, sondern damit lediglich einem Trend folgen. In diesem Zusammenhang zitiert Lanteri André Lepecky, der – fast entschuldigend – schreibt: „one cannot escape the fact that dancers (…) are increasingly turning back on their and dance history’s tracks in order to find the object of their quest“.

In der Tat ist die Wiederaufnahme von älteren Kreationen keineswegs neu. In den letzten Jahren konnte man immer wieder die frühen Stücke der PionierInnen des postmodernen Tanzes etwa von Trisha Brown, Lucinda Childs oder Yvonne Rainer verfolgen. Abseits ideologischer Überlegungen ging es ihnen mit diesen Rückblicken wohl vor allem darum, ihre seinerzeitigen Experimente ins Gedächtnis zu rufen, die heute bereits vergessen sind. Nicht umsonst fühlt man sich bei so vielen Versuchen der letzten zwanzig Jahre an die 1960er und 70er Jahre erinnert. Eine andere Form der Wiederaufnahme, nämlich ein Re-enactment älterer Materialen haben zum Beispiel Liz King und ehemalige Tänzerinnen und Tänzer des Tanztheater Wien 2015 mit „Back to the Future“ realisiert.

Möglich, dass diese Rückbesinnung auf die Vergangenheit einen Anker in einer sich rapide ändernden Welt bietet. Denkbar, dass dazu auch die zur Zeit vielbeschworenen „Werte“ gehören, zu denen sicher auch das kulturelle Schaffen gehört, das man in einer Kontinuität nun darzustellen versucht. Vielleicht sind all das Faktoren für eine Art von Sehnsucht Vergangenes wieder präsent werden zu lassen. Nicht im Sinne einer verklärten Nostalgie, sondern weil die Auseinandersetzung mit dem Erbe künstlerische Nachhaltigkeit erst ermöglicht. Denn jene Künstler, die ihre Forschungen der Vergangenheit widmen, legen damit auch den Grundstein für heutiges Schaffen. Was in der Musik unumstritten scheint, geht in der heutigen Diskussion über Tanz weitgehend unter.
 
Eine Besprechung des Eröffnungsabends von Imagetanz 2017 gibt es hier.