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iptchrisella-esqueShanghai und Vancouver, Budapest und Montreal, Paris und London, Kassel, Venedig und Krakau – ein Vielfliegerticket ist Chris Haring und seiner Truppe sicher. Doch nicht ein Flying Loft ist unterwegs, sondern „Liquid Loft“, die international bekannte Tanzformation, 2005 von Haring gemeinsam mit dem Musiker Andreas Berger, der Tänzerin Stephanie Cumming und dem Dramaturgen Thomas Jelinek gegründet.

Zur Zeit pendelt Haring zwischen Wien und Moskau, wo er im International Dance and Performance Center TsEKh mit jungen Tänzern und Tänzerinnen vom „Ballett Moskau“ arbeitet, die weder Schwäne noch Prinzen sein wollen. Ferien wird es auch im Sommer für den Choreografen kaum geben, hat er doch bei ImPulsTanz die anstrengende und aufregende Aufgabe übernommen, die Spinne im Netz des danceWEB Stipendienprogramms zu sein.

Der Choreograf als Lehrer. „Mentor“ wird der Betreuer der ungefähr 60 Tanzschaffenden genannt, die von ImPulsTanz zu dem fünfwöchigen Fortbildungsprogramm für zeitgenössischen Tanz eingeladen sind. Jedes Jahr wird ein anderer Künstler /eine Künstlerin gebeten, die Auserwählten, die heuer aus mehr als 40 Ländern – von Argentinien über Russland und Serbien bis Uruguay reicht die Liste, auf der auch drei Künstlerinnen aus Österreich stehen – kommen, zu führen und zu leiten. Der renommierte amerikanische Choreograf Stephen Petronio war 1996 der erste DanceWEB-Mentor, danach liest sich die Übersicht wie eine Aufzählung aus dem Who is Who des Tanzes. Auf das Enfant terrible der Performance, Ivo Dimchev, folgt heuer das Enfant honorable der Choreografie, Chris Haring. Die Arbeit hat schon im Jänner mit der Auswahl aus den Hunderten Anmeldungen begonnen. „Ich mache das ja nicht allein, aber natürlich gebe ich eine gewisse Richtung vor, wohin der Hase heuer laufen soll. Mir ist wichtig, dass die Stipendiaten schon etwas vorzuweisen haben, ein bestimmtes Know-how mitbringen. Deshalb sind sie auch nicht ganz jung. Die älteste Teilnehmerin ist 43.“ Verlockend findet es Haring, dass die TeilnehmerInnen aus allen Winkeln und Ecken der Welt kommen. „Ich darf nicht alle mit dem selben Maß messen. An Mariana aus Uruguay muss ich andere Kriterien anlegen als an Barbis aus Wien oder Azadeh aus Iran. Tanz hat nicht überall den gleichen Stellenwert und mit der Ausbildung ist es auch nicht in allen Ländern gleich bestellt. Dieses Feld zwischen globaler künstlerischer Auseinandersetzung und den individuellen Gegebenheiten, wenn ich versuche mich in das Herkunftsland hineinzudenken, ist überaus spannend.“ Was Haring und seine „Frogs“ – Helfer und Ratgeber, die in den vorangegangenen DanceWEB-Programmen Erfahrung gesammelt haben und als Assistenten dem Mentor zur Verfügung stehen – voraussetzen, ist ein eigenes Profil, Bühnenerfahrung und selbständiges Denken“. „Eine gewisse Öffentlichkeit sollte schon vorhanden sein. Schließlich müssen die Teilnehmer auch Referenzen beilegen. Heute ist das kaum ein Problem. Auch in den Ländern, wo der Tanz-Wüste noch in der Wüste darbt, gibt es Internet. Das nützen viele, um sich darzustellen. Sie finden ihren Auftrittsort auf den Videoplattformen wie YouTube oder Vimeo.“ iptharing deepdish2

Mentor Haring leitet mehr als er befiehlt. „Das Ziel ist nicht, ein am Ende der fünf Wochen, ein fertiges Stück zu präsentieren. Mir geht es um den Mehrwert der Vernetzung und des künstlerischen Austausches. Natürlich gibt es Termine, an denen wir uns immer wieder treffen, da gebe ich dann schon eine Richtung vor, aber zuerst will ich die Leute kennen lernen und sie sollen einander kennen lernen.“ Die Gefahr, dass den StipendiatInnen langweilig wird, besteht nicht: „Es gibt bei ImPulsTanz so viele Angebote. Nicht nur die Workshops und die abendlichen Auftritte, auch die Coaching- und Research-Programme für Profis können die Leute besuchen.“ Chris Haring beobachtet das Leben und Treiben bei DanceWEB seit Jahren, schließlich tritt er (zuerst als Tänzer nun als Choreograf von Liquid Loft) schon seit 1997 regelmäßig beim ImPulsTanz –Festival auf, und kennt das Resümee der Teilnehmerinnen nach 35 Tagen im DanceWEB: „ Am meisten beeindruckend ist, was untereinander passiert. Die Leute lernen ja nicht nur, die bekommen sehr viel mehr und geben auch viel her. Sie besprechen Ideen untereinander, neue Verbindungen und Zusammenarbeiten ergeben sich. Ich habe noch niemanden getroffen, der unzufrieden nach Hause gefahren ist. Am Ende, sind sie zwar alle geschlaucht, würden aber sofort wieder kommen. An den Zahlen für die Bewerbung sieht man, dass dieses Programm einen weltweiten Ruf hat, auch in Moskau hat man mich gleich drauf angesprochen.“ Gleich wieder kommen würde auch Macklin Kowal, Autor und Performer aus San Francisco, der im Vorjahr am DanceWEB mitgeflochten hat. überaus lyrisch formuliert er sein Fazit: „Bereichernd, aufschlussreich, herzzerreißend: Es gibt nichts was in chemischer, hormoneller und spiritueller Zusammensetzung mit danceWEB zu vergleichen ist."

Das Angebot an Interaktion, Kommunikation, Information, physischem Training und abendlichem Vergnügen wird auch ganz trivial durch die Übernahme der Kosten ergänzt. Sämtliche Kurse und Vorstellungen in der Höhe von geschätzten 6450 € sind ebenso kostenlos wie die Unterkunft in Wien. Was die Reisekosten und die Tagesspesen betrifft, wird den Stipendiaten geraten, Unterstützung bei nationalen / regionalen Institutionen im Heimatland zu finden. Die Pflichten sind leicht einzuhalten: Aktive Teilnahme am 5wöchigen Programm, dessen einzelne Punkte frei wählbar sind und ein schriftlicher Abschlussreport. DanceWEB funktioniert unter dem Dach von „Life Long Burning“, einem europäischen Projekt, das sich der „Förderung und Entwicklung einer aufstrebenden europäischen zeitgenössischen Tanzszene widmet.“ Die Konstruktion von Life Long Burning ist verzwickt, DanceWEB ist und (mit dem Stipendien-Programm) Projekt und als solches auch Partner. Nicht allein. Auch das renommierte schwedische Cullberg Ballet, Ultima Vez, die Formation des Belgiers Wim Vandekeybus, oder das Tala Dance Center aus Kroatien beteiligen sich mit anderen Tanzzentren am lebenslangen Brennen für den zeitgenössischen Tanz.

Chris Haring ist der Richtige, um die Antwort auf die Frage, was denn unter zeitgenössischem Tanz zu verstehen sei, zu geben. Und er gibt sie spontan: Das schöne am zeitgenössischen Tanz ist das Zeitgenössische.

Ich kann heute auf die Bühne gehen und muss keinen Stil vertreten oder mich einer Gruppe zuordnen.“ Haring und Liquid Loft haben ihren eigenen unvergleichlichen Stil entwickelt, arbeiten mit einer eigenwilligen Bild- und Formensprache in typischen akustischen Bühnensets, auch in Verbindung zu anderen Kunstformen. Schnell wurden sie international anerkannt, zu Festivals und an die großen Tanzhäuser eingeladen, mit Preisen, etwa einem Goldenen Löwen bei der Tanzbiennale von Venedig oder den österreichischen Staatspreis als „Outstandig Artist“, geehrt. „In unserer global vernetzten Welt steht aber die verschiedensten Leute mit den gleichen Themen beschäftigen. Da ist auch ein Unterschied zu lokalen traditionellen Tanzformen, die sind in meinem Fall als Mentor eher ausgeschlossen. Bei der Auswahl der TeilnehmerInnen am DanceWEB ging es mir vor allem um Persönlichkeiten, die auch eine eigene Bewegungssprache haben. Die meisten von ihnen haben auch schon eine Art von Netzpräsenz, man kann nachsehen, was sie schon gemacht haben.“ iptharing deepdish3

Wie aufregend, bereichernd und auch vergnüglich die fünf Wochen im DanceWEB sind, weiß Haring aus eigener Erfahrung. Vor 17 Jahren war der damals 27jährige selbst Stipendiat im Netz. Begonnen hat Haring mit dem Tanzen nach dem Studium für Musik- und Bewegungserziehung und Psychologie mit einer Weiterbildung in New York und darauf folgenden Engagements in großen Compagnien und landete als Tänzer bei der inzwischen sanft entschlummerten Formation Pilottanzt. 1999 machte er in Zusammenarbeit mit dem Multimedia-Künstler Klaus Obermaier mit der genialen Video-Performance „D.A.V.E“ (digital amplified video engine) schlagartig als Solist und Choreograf auf sich aufmerksam. Obwohl Haring ein leidenschaftlicher Lehrer geblieben ist, hat er als Mentor andere Aufgaben. „Ich mache mit den Leuten ein drei Tage langes Einführungsworkshop, wo wir auch herausfinden, welche Erwartungen, Hoffnungen und Absichten sie haben. Manche brauchen Hilfe bei der Strukturierung des Aufenthalts, der Auswahl der angebotenen ImPulsTanz-Projekte oder auch der Umsetzung ihrer eigenen Ideen. Ich geben ihnen eine Art von Leitfaden und pass’ halt auf, dass niemandem etwas passiert, keiner verloren geht.“ Als Mentor ist er eher einer Glucke ähnlich, die ihre zahlreichen Küken beschützt und leitet, als einem gestrengen Lehrer. Ziel des Programms ist auch weniger eine bestimmte Ausbildung, als das Erweitern des persönlichen und artistischen Horizonts. Im Kontakt untereinander und mit den internationalen Choreografinnen und Workshop-Leiterinnen, durch neue freundschaftliche und künstlerische Beziehungen. Nicht verwunderlich, dass viele der einstigen Stipendiatinnen und Stipendiaten wieder zu ImPulsTanz zurückkehren, nicht mehr als Lernende sondern als Lehrende und Darstellende.

Michel Blazy arbeitet mit dem Vergänglichen.An einem Abend werden die Scholarship-Partner mit Argusaugen den Mentor selbst und seine Arbeit beobachten. „Deep Dish“ ist das Abschlussprogramm der Serie „The Perfect Garden“, das Liquid Loft (Luke Baio, Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak) im Volktheater zeigen wird. Im durch und durch zeitgenössisches Stück, bewegt sich doch die Live-Performances inmitten einer Soundlandschaft (Berger) in und um die Installation einer surrealen Mahlzeit (Michel Blazy) während die Körper, Körperteile und Ausschnitte mit der Live-Kamera auf einer riesigen Videowand synchron oder als Gegenbild zu sehen sind. Allmählich lösen sich die Grenzen zwischen Körpern und Gemüse auf, alles wird zu organischem Material. Gerne singt Haring das Lob des bildenden Künstlers und Freundes Michel Blazy, der die lebendige Bühnenausstattung gestaltet hat. „Der Michel nimmt mir die Angst vor der Vergänglichkeit.“ Blazys „lebendige“ Installationen, seine Beschäftigung mit dem Werden und Vergehen, das Lenken des Blicks auf die Ästhetik der Verwesung, öffnet tatsächlich neue Welten. Die Welt im Großen und im Kleinen, Mikro- und Makrokosmos schwebten Haring für seine barocke Aufführung vor, die zugleich eine Gesellschaft zeigt, die ihre eigene Vergänglichkeit feiert.

Le Maître Canterel als Quelle. Inspirieren ließ sich Haring von dem kaum bekannten rätselhaften Werk des französischen Schriftstellers Raymond Roussel „Locus Solus“ (1913, Neuauflage, Die andere Bibliothek, 2012). Roussel erzählt von einem Maître Martial Canterel, der ausgewählte Gäste durch eine Art Märchen Garten führt und zu den sonderbaren Skulpturen sonderbare Geschichten erfindet. „Wie in diesen Landschaften Canterels trifft man auch bei unserem Abendmahl auf die Schönheit und Dekadenz einer Seinsform, die weiß, dass sie schon bald an sich selbst zugrunde gehen wird.“ Mit solchen trüben Gedanken müssen sich die Zuschauerinnen aber nicht belasten. Sie können einfach genießen, das große Mahl aus Gemüse und Früchten und die kleinen Details der Wasserflöhe im Glas, den herangezoomten Broccolistengel, der zum menschlichen Arm wird und die Orange die sich auf der Leinwand zum unendlichen Kosmos aufbläht. Diese Metapher vom Wachsen, Wuchern, Werden, Verblühen, Vergehen Verwesen, sind an der obersten Ebene auch einfach schön und vergnüglich anzusehen.

Zuvor aber wird gelacht. Nicht Wien im August, jedoch im Mai in Moskau, wenn Harings Arbeit über das Lachen im Sounddesign von Andi Berger Premiere hat. Ein lächerliches Stück? „Nein. Wir lachen ein verlorenes Lachen und arbeiten mit der Rhythmik des Lachens. Die Arbeit ist faszinierend, beim Lachen werden so viele Muskeln beschäftigt und es gibt so viele Arten des Lachens und die Bewegungsformen sind so vielfältig. “ Nur Titel gibt es noch keinen für das Stück. Harings penible Titelfindung mit Wortspielen und Assoziationen findet bei den Russen keinen Anklang. Zu verschieden sind die Bilder in den beiden Sprachen, zu unterschiedliche auch das Denken, zu unterschiedlich das Gelächter. Doch wenn es um den Körper geht, „den ja jeder hat, den auch jeder auf gewisse Weise ästhetisiert“, kann Haring seine Begeisterung nicht verbergen: „Tanzstücke zu machen ist extrem attraktiv.“ Ob in Moskau, Kassel oder Wien.

DanceWEB-Stipendien Programm 2014 für zeitgenössischen Tanz und Performance, 16. Juli bis 20. August 2014. 60 TeilnehmerInnen aus 40 Ländern. www.danceweb.eu/

Chris Haring / Liquid Loft: „Deep Dish“, im Rahmen von ImPulsTanz, 6. August 2014 Volkstheater. Auch die Erfolgsproduktion „Talking Head“ wird im Rahmen von ImPulsTanz wieder gezeigt.

Der Artikel ist in gekürzter Fassung im Kulturmagazin vom 17.4. 2014  der Tageszeitung "Die Presse" erschienen.