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Giselle5Die großen Werke der Ballettliteratur heute zu inszenieren, ist eine Gratwanderung entlang des Abgrunds zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Tradition und Zeitgenossenschaft, zwischen Vertrautem und neu Gedachtem, zwischen Romantik und sozialer Realität, zwischen der unsterblichen, weil notierten, musikalischen Vorlage und der Flüchtigkeit der Bewegung, zwischen dem Formalismus des klassisch akademischen Tanzes und der Freiheit des Körpers. Akram Khan weiß all das und hält souverän die Balance. 

Er optierte bei seiner „Giselle“ für eine radikale Neufassung auf musikalischer, szenischer, inhaltlicher und vor allem tänzerischen Ebene. Als genialer Choreograf und Theatermann hat den Stoff mit neuem Leben gefüllt und für das English National Ballet ein visuell überwältigendes Meisterwerk geschaffen, das emotional berührt und gleichzeitig kritische Distanz erlaubt.

Eine Schar von Menschen steht mit dem Rücken zum Publikum und schaut auf eine Wand, rennt gegen sie an, wird zurückgeworfen. Eine Gruppe, die die hohe Mauer nicht durchbrechen zu vermag, deren Blick auf „das Dahinter“ unerbittlich blockiert ist. Die choreografische Vehemenz, die Akram Khan in diese Eröffnungsszene packt, raubt der Zuseherin gleich einmal den Atem. Welch unermüdliche, zornige Energie steckt doch in diesen Läufen, Sprüngen und dem Aufprallen der Körper auf die Wand! Zu einem elektronischen Sound von Vincenzo Lamagna, aus dem sich im Laufe des Abends immer wieder Motive aus der Originalkomposition von Adolphe Adam herausschälen.Giselle4

Diese Menschen sind keine bäuerliche Gemeinschaft, die die Ernte zelebriert, sondern vielmehr eine verzweifelte Community. Khan hat diese in seiner Erzählung in den Textilfabrikarbeiter*innen in Bangladesch, aus dem seine Eltern kamen, gefunden. Diese stehen vor dem Aus, als die Erzeugung nach Manchester in Großbritannien verlegt wird. Sie werden zu Ausgeschlossenen, streng getrennt von den Fabriksbesitzern, die für ihr Los verantwortlich sind. Giselle ist eine von ihnen. Albrecht ist, wie sich bald herausstellt, ein doppelgesichtiger Gast.

Giselle3Auch in diesen widrigen Zuständen, gibt die Liebe Hoffnung. In einem wunderbar spielerischen Pas de deux versinken die beiden in ihrer Welt. Hilarions Avancen gegenüber Giselle und seine unlauteren Absichten gegenüber Albrecht werden kategorisch und handgreiflich abgewiesen. 

Doch dann hebt sich donnernd die dicke Mauer, und wie einst die königliche Jagdgesellschaft, tritt nun die betuchte Oberschicht auf. Die Kostüme illustrieren mit Lust am Pomp den Status der Privilegierten. Im Gegensatz zum Original, ist Giselle hier aber von den üppigen Roben nicht verzückt, sondern erkennt darin ihre eigene Handarbeit. Bathilde enttarnt ihren Verlobten Albrecht, der erst versucht, sich unter den Ausgestoßenen unsichtbar zu machen. Zögerlich entscheidet er sich für das Leben, das ihm von Geburt an bestimmt ist, und lässt Giselle zurück.Giselle6

Dramaturgisch hat Akram Kahn den ersten Akt auf diesen Moment hin konzipiert. Giselles Wahnsinn ist hier pure Verzweiflung, ihr Schmerz quasi greifbar. Unter der Anweisung von Bathildes Vater schart sich die Gruppe um Giselle. Als sie sich zerstreut, ist Giselle tot – in den Armen von Hilarion.

Giselle2Dem ersten Akt von „Giselle“ andere soziale Realitäten als die ländlichen Idylle des Originals zuzuordnen, gelingt Akram Khan trefflich und überzeugend. Nicht ganz so schlüssig ist der zweite Teil, der in der metaphysischen Welt von Geisterwesen spielt. In der Romantik boten die männermordenden Wilis Anlass für einen legendären weißen Akt. Reihen von weißgekleideten Ballerinen, schweben auf Spitze und in perfektem Gleichschritt über die Bühne. Akram Khan bleibt hier dem Original sehr nahe, lässt die Wilis sogar en arabesque über die Bühne hüpfen.Giselle12

Zwar spiegelt die unterirdische „Geisterfabrik“ den Fabrikalltag über ihr wider, sind die – ebenfalls auf Spitzenschuhen tanzenden – Wilis rauer und bedrohlicher als die romantischen Überirdischen, doch findet auch hier Albrecht seine unverdiente Vergebung. (Vergleiche dazu Dada Masilos „Giselle“, die den Betrüger nicht davonkommen lässt.) Auch wenn er den Kontext ändert, bleibt Khan der Handlung des Originals durchwegs treu. 

Giselle7Selbst in der Geisterwelt wird die soziale Rangordnung respektiert, denn die Wilis stehen unter der Kuratel ihrer Königin Myrtha. Sie überführt Giselle aus ihrem leblosen Körper in ein spirituelles Wesen. Als Hilarion auftritt, um an ihrem Grab zu trauern, erleben wir in der Rückblende, die Szene, die im ersten Akt durch die Gruppe verdeckt war: Hilarion misshandelt Giselle so heftig, dass sie stirbt. Klar, dass sie diesen Übeltäter den Wilis – sie sind in Khans Fassung mit Bambusstäben bewaffnet, die auch vehement eingesetzt werden – zur Tötung überlässt. Doch sobald Albrecht die Szene betritt, beschützt sie ihn vor Myrthas Angriffen. In einem Pas de deux lassen sie noch einmal ihre Liebe aufleben, bevor Giselle, Myrtha und die Wilis ins unterirdische Dunkel verschwinden und Albrecht in die Realität zurückgeschickt wird. Seinem sozialen Status hat er mit dem Besuch von Giselles Grab abgeschworen, nun bleibt er allein vor der hohen, dicken Mauer, die die Entrechteten von den Herrschenden trennt. Da darf es zu den Schlussakkorden auch gerne eine ordentliche Portion Pathos geben.Giselle13

Diese „Giselle“ ist ein szenisches Großereignis, in dem sich Khans choreografisches Ausnahmetalent mit der eindringlichen Musik von Vicenzo Lamagna in der grandiosen Ausstattung (mit einem dreh- und schwenkbaren Bühnenbild) von Tim Yip und den ausgezeichneten Tänzerinnen und Tänzern des English National Ballet verbindet – allen voran Fernanda Oliveira in der Titelrolle, Erik Woolhouse als Hilarion, Aitor Arrieta (Albrecht) und Isabelle Brouwers (Myrtha). 

So stellt sich die zeitgenössische Deutung auf eine Ebene mit dem Original und bestätigt die zeitlose Gültigkeit des klassisch-romantischen Erbes.

English National Ballet. Akram Khan: “Giselle” am 25. Februar 2023 im Festspielhaus St. Pölten

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