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Rotkaeppchen1Dem Märchen im Bühnentanz mehr Raum zu geben, betrachtet Beate Vollack, Ballettdirektorin im Grazer Opernhaus, nicht nur als Notwendigkeit, sondern ist ihr auch so sehr ein Anliegen, dass sie eine Umsetzung in Form von zwei derartigen Premieren an den Beginn der diesjährigen Tanz-Saison setzt: Zwei Premieren rund um ein Thema, kreiert von zwei Choreografen für zweierlei Publikumsgruppen.

Wobei „Rotkäppchen“ und „Der Wolf“ im Grunde als eine zusammengehörende Produktion intendiert ist – jedenfalls für Erwachsene; soll diesen doch die Vielschichtigkeit von Märchenstoffen wieder einmal ins Bewusstsein gerückt werden. Rotkaeppchen4

Rotkäppchen

Das Ballett „Rotkäppchen“ von Sascha Pieper zur Musik von Dominic Faricier ist freilich bereits für Kinder ab 5 Jahren geeignet. Sehr gut sogar, da es in seiner Aufbereitung inhaltlich wie formal ansprechend der Welt von Kindern entgegenkommt: Die Großmutter – ‚eine, wie sie im Buch steht‘ – ist es, die die Geschichte (und damit gleichzeitig die ihre) erzählt. Dem interpretierenden Florian Stohr gelingt dies mit viel kindgerechtem Charme und Spaß – wobei letzterer je nach Alter ab und zu auch mehrdeutig und damit auch ironisch verstanden werden kann. Und immer dann, wenn die Großmutter dabei, beim Erzählen, wieder einmal einnickt, entwickelt sich die traditionell ablaufende Geschichte (ohne dass die inkludierten Grausamkeiten explizit gezeigt werden) auf der Bühne weiter. Auf einer, die, weitgehend stilisiert – von Großmutters nettem Eckerl mit Ohrensessel einmal abgesehen –, gleichermaßen funktionell wie zurückhaltend klar von Kinsun Chan angelegt ist. 

Rotkaeppchen3Stephanie Carpio tanzt (wie alle anderen TänzerInnen ohne Spitzenschuhe) ihren Rotkäppchen-Part mit nachvollziehbar jugendlicher Frische und Unbekümmertheit; ohne dass Unsicherheit, Ängste und gleichzeitig Neugier ganz unter den Tisch fielen. Und eben diese ist es ja auch, die die Geschichte, beginnend mit dem Auftrag, den ‚rechten Weg nicht zu verlassen‘ ins Rollen bringt, ihr allgemeingültige Bedeutung gibt. In dieser Version ist es aber selbstverständlich die Story, die im Mittelpunkt steht: Die Begegnung mit dem Wolf, den Frederico Oliveira in moderat bedrohlicher, aber umso geschmeidigerer Weise tänzerisch interpretiert und auch in seiner listigen Liebenswürdigkeit im gemeinsamen Tanz mit der Ersehnten gut umsetzt.Rotkaeppchen2

Fantasieanregend die fünf Waldwesen, die anschaulich und lebendig die wechselnden Stimmungen von Entdeckungslust und Freude, Furcht und Unsicherheit begleitend unterstreichen oder auch der verunsichert, ja verängstigt Suchenden Halt gewähren. 

Wolf1Der Wolf

In „Der Wolf“, der Ballett-Fassung für Erwachsene, kommt diesen Waldwesen, gekleidet in ebenfalls sehr gelungenen, nun aber abstrakteren Kostümen (Kinsun Chan) wiederum eine atmosphärisch wichtige, weil nicht nur unterstreichende, sondern auch kommentierende Rolle zu, die sie wiederum recht überzeugend, wenn auch nicht allzu variationsreich erfüllen. Die international erfahrene Choreografin Morgann Runacre-Temple (GB) hat sich in ihrem einstündigen Ballett aber auch einer großen Herausforderung gestellt: Der Plot wird in dreierlei Version gezeigt; jeweils im weitgehend identen Bühnenbild, getanzt von denselben Tänzerinnen, selbst einzelne Szenen sind weitgehend deckungsgleich.Wolf2

Allein, es gibt kleine, aber umso markantere Handlungsunterschiede, und, was noch wichtiger ist, die Grundstimmungen sind anders und, am allerwichtigsten: Rotkäppchen, getanzt von Kirsty Clarke, geht durch einen Reifungsprozess. Sowohl im Verhalten gegenüber ihrer Mutter: In der dritten und letzten Variante geht sie etwa aus eigenem Antrieb weg vom (eintönigen) Zuhause und voller Abenteuerlust und relativer Selbstsicherheit in die Fremde, in den Wald. Als auch, selbstredend, in ihrem Verhalten gegenüber dem ‘Fremden‘, dem ‚Wolf‘. Das Entscheidende in diesen drei Versionen ist das „Dazwischen“, ist das, was von A nach B führt. 

Wolf4Dass in einer Variante die hochagile Großmutter voller Erlebnis-Hunger ihrerseits den verführenden Teil abgibt (amüsant und kraftvoll interpretiert von Beate Vollack), ist der Zeitgemäßheit geschuldet. Was nichts Schlechtes, vielmehr ebenso interessant ist wie die, dass in der dritten und abschließenden Version letztlich die Aktion, die Verführung von Rotkäppchen ausgeht. 

Das Wesentliche und Kreative an diesem Konzept ist der Weg, der nicht nur in allen vier Versionen unübersehbar das Bühnenbild charakterisiert. Es ist das feine Netz, das sich zwischen allen Beteiligten spannt, entwickelt oder auch zerreißt. Wolf3

Zum Teil gelingt es den beiden Protagonisten Kirsty Clarke und Paulio Sóvári als Wolf, das Wechselspiel im Miteinander in ihrer Bewegung, ihrem Tanz und ihrer Mimik/Gestik umzusetzen. Manches an notwendiger Feinheit dieser emotionalen Welten fällt allerdings der (angestrebten?) Verständlichkeit zum Opfer. Dass außerdem das hierfür notwendige tänzerische Vokabular ein überaus hochwertiges sein muss, liegt auf der Hand. Wahrscheinlich ist auch, dass für derartige inhaltliche Ansprüche mehr an Zeit für die Choreografie gegeben sein müsste.  

Gut und wichtig aber ist, dass mit dieser Interpretation das einfache, allein zwischen althergebrachtem Gut und Böse unterscheidendem Denken massive Risse erhält und damit Raum geschaffen wird – für (nicht nur künstlerische) Nuancen; letztlich für Toleranz.

„Rotkäppchen“, 15.Dezember, „Der Wolf“ am 18. Dezember 2021 in der  Studiobühne, Opernhaus Graz. Weitere Vorstellungen: „Rotkäppchen“ 22., 30. Dezember, 6., 8., 13., 23., 29. Jänner 2022; „Der Wolf“ 30. Dezember, 8.,13., 23., 29. Jänner