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Vertikal1Im Juni 2018 bereits mit seiner außergewöhnlichen Choreografie „Pixel“ im Festspielhaus St. Pölten zu Gast gewesen, präsentierte der französische Choreograf Mourad Merzouki nun aseine jüngste, 2018 entstandene Arbeit „Vertikal“, in der sich die TänzerInnen seiner Compagnie „Käfig“ der Fesseln der Schwerkraft entledigen und mit unglaublich ästhetischen Bildern das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinrissen.

Als Jugendlicher liebte der 1973 in einem Lyoner Randbezirk, einem sogenannten Banlieue, geborene Mourad Merzouki das Boxen, nahm aber bereits Unterricht an einer Zirkusschule, bevor er mit 15 den Hip-Hop für sich entdeckte. Schon ein Jahr später gründete er mit Freunden (unter anderen mit Kader Attou) seine erste Compagnie Accrorap (die unter dessen Leitung zum Saisonabschluss am 5. Juni 2020 im Festspielhaus zu Gast sein wird). 1996 gründete Merzouki seine eigene Compagnie „Käfig“, deren Name ihm bis heute künstlerischer und programmatischer Urgrund ist. Diesem - im Arabischen gleichlautend benannten - Ort des Eingesperrtseins, diesem Grundgefühl seiner Jugend, sucht er mit seiner Kunst zu entkommen. Er will den Käfig seiner eigenen Herkunft sprengen. Für „Käfig“ schuf er bislang 30 Choreografien, die in 60 Ländern gezeigt wurden. Die Grenzen seines tänzerischen Ausgangsmaterials Hip-Hop versucht er ständig zu erweitern und zu durchbrechen. In „Pixel“ erschließt Merzouki die dritte Dimension mittels Video-Projektionen imaginär, in „Vertikal“ endlich physisch.Vertikal2

Die fünf verschiebbaren Türme auf der von Benjamin Lebreton gestalteten Bühne erlauben ein variantenreiches Spiel mit senkrechten Flächen und Kletterwänden. Das Lichtdesign von Yoann Tivoli setzt mit warmen Hintergrund-Farben und akzentuiertem Einsatz von Decken- und Seitenlicht die Türme und die PerformerInnen in Szene. Armand Amar schuf Musik zwischen elegisch und dynamisch. Akustische Instrumente (Streicher, Klavier, Percussion) und den Gesang von Frauen versetzt er mit elektronischen Beats und Klängen. Bühne und Sound für sich sind schon ein Genuss.

Vertikal3Und dann der Tanz. Die zehn TänzerInnen erscheinen nach und nach durch seitlich in die Türme eingelassene Öffnungen im Halbdunkel. Ihre tänzerischen Herkünfte bilden nur die Basis für die choreografischen Umsetzungen. Dem Hip-Hopper ist der Boden sein Metier, Körperkontakt findet nicht statt. Die klassisch Ausgebildeten berühren den Himmel nur auf Spitze, zeitgenössisch Geprägte agieren auf dem Boden, den die Akrobaten der Lüfte meiden. Merzouki veranlasst sie zu Grenzüberschreitungen, zum Verlassen ihrer genre-spezifischen Komfort-Zonen. Auf dieser Ebene treffen sie sich und werden zu tanzenden Akrobaten, Mischwesen, die mit „dreidimensionalem Tanz“ das ihnen vertraute Spiel mit der Schwerkraft überwinden, in die Illusion der Schwerelosigkeit hinein. Und alles konvergiert in Hip-Hop-basierter Artistik.Vertikal5

Merzouki erzählt keine Geschichte, dennoch macht er Vereinzelung und den Kampf des Individuums um Selbstbehauptung, Gemeinschaft und empathisches Miteinander sichtbar. Die Konstellationen verändern sich ständig. Gruppenszenen fließen in mit Zwischenapplaus bedachte Duette, an unsichtbaren Seilen hängend über dem Boden schwebend getanzt. Er erzeugt Traum-Bilder, in denen das Fliegen bekanntlich zu den schönsten Erlebnissen zählt. Die TänzerInnen tanzen am Boden und laufen an senkrecht stehenden Wänden auf und ab, schweben, schwingen und pendeln so, dass aus Fantasien Realität wird. Und es endet in rauschhafter, am Gummiseil die vertikalen Wände bespielender Tanz-Akrobatik.

Vertikal4Die Mitglieder der Compagnie agieren mit kraftvoller Genauigkeit und hoch sensibel aufeinander. Mourad Merzouki überführt den aggressiven Hip-Hop, dessen Empörung ihm seine Energie einhaucht, in Poesie. Aus dem sozialen Brennpunkt auf die großen Bühnen dieser Welt, vom Kampfsportler zum Versöhner durch Überwindung von Barrieren, vom wütenden Hip-Hopper zum Apologeten der Harmonie und Schönheit. Er definiert den Theaterraum neu, trotzt der Schwerkraft, packt die Illusion der Schwerelosigkeit in atemberaubende Bilder. „Vertikal“ wird zur starken, betörenden Metapher für die einigende Überwindung von Ängsten, Unterschieden und Grenzen. Ein meisterliches Gesamt-Kunstwerk.

Mourad Merzouki / Compagnie „Käfig“: „Vertikal“, am 19. Oktober 2019 im Festspielhaus St. Pölten