Hauptkategorie: Kritiken

Kaklea2Lenio Kaklea behandelt in „Practical Encyclopaedia, Chosen Portraits“ Praktiken des Umgangs mit eigenen körperlichen und seelischen Gegebenheiten, Akemi Takeya inszeniert ihre Solo-Performance „ZZ“ von 2003 mit „ZZremix“ neu, Miranda Kandathil & Annina Machaz zeigen im Rahmen der Reihe [8:tension] „Ask the oracle -the future is now-“ und Peter Stamer & Frank Willens spielen „In the Penal Colony“.

Lenio Kaklea: „Practical Encyclopaedia, Chosen Portraits“

600 Interviews, seit 2016 geführt in Zusammenarbeit mit TänzerInnen, ForscherInnen und SchriftstellerInnen in sieben europäischen Städten, bilden die Basis für Lenio Kakleas Projekt „Practical Encyclopaedia“, in dem die 1985 in Athen geborene Choreografin und Tänzerin individuelle Rituale und Techniken des Umgehens mit aktuellen physischen und psychischen Stati der Befragten untersucht und künstlerisch verarbeitet. In „Practical Encyclopaedia, Chosen Portraits“, hier gezeigt als österreichische Erstaufführung, präsentiert sie sieben ausgewählte Praktiken. Vor der eigentlichen einstündigen Performance zeigt Kaklea im angrenzenden Kinosaal Videos von Interviews. Am 25. Juli war eine begleitende „Lecture demonstration“ programmiert.

Das letzte Video vor der Performance zeigt eine an Parkinson erkrankte ehemalige Tänzerin, die den durch die Krankheit hervorgerufenen massiven körperlichen Einschränkungen mit ausgewählten Übungen zu begegnen versucht. „Streching restores vitality.“Kaklea

Auf der karg dekorierten Bühne, zwei rosa Schaumstoffquader und eine Personenwaage mit Projektionseinrichtung, setzt Lenio Kaklea sieben Praktiken, deren Nummer mit den Namen der Praktizierenden an die Rückwand projiziert werden, in Bewegung um. Wirbelsäulen-Gymnastik und Sensibilisierung der Hände, Gewichtsreduktion durch Aufbau von Muskulatur, klassisches Ballett-Training, um dem griechischen Schönheitsideal näher zu kommen, Zumba-Workout ohne Pop-Musik, Bewegungsübungen wie die eines Schlaganfall-Patienten, rituelle Waschungen und Gebete gen Mekka. Und nach angedeuteter „missionierender“ Kopulation schaut sie stehend ins Publikum und lächelt. „Was ist Dein Thema? Welche Praktiken wendest Du an?“ Das Publikum zeigte sich begeistert.

„Practical Encyclopaedia, Chosen Portraits“ gestattet einen kleinen Einblick in die umfangreiche Arbeit Lenio Kakleas, mit der sie sich existenziellen Fragen einzelner Individuen respektvoll nähert, weit hinausgehend über Körperliches. Ihre tänzerischen und performerischen Qualitäten nutzend, feiert sie letztlich die Würde des Menschen.

Akemi2Akemi Takeya: „ZZremix“

Seit 1997 ist die japanisch-österreichische Tänzerin, Choreografin und Performerin Akemi Takeya sehr regelmäßiger Gast bei ImPulsTanz. 2004 war ihre ein Jahr zuvor entstandene Arbeit „ZZ“ zu sehen, die heuer in einer Neuinszenierung gezeigt wurde. „ZZremix“ entstand in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen und Autor Armin Anders, dem Lichtdesigner Jan Wagner, der die leere Bühne stimmungsvoll strukturierte, und den Soundartisten Peter Kutin und Moritz Nahold, die mit einer sehr diversen, wirkungsvollen Klangkulisse zum Gelingen dieser Arbeit beitrugen.

Im eleganten, bodenlangen, weiten, schwarzen Kleid stehend, den Mund wie in Zaumzeug geschnürt, kreist sie mit dem Finger über den Rand eines Wasserglases. Der singende Ton wird elektronisch fortgeführt und zum disharmonischen Mehrklang erweitert. Akemi Takeya saugt uns in die Zerbrechlichkeit ihres geistigen und Künstler-Seins.

In ihrer in sieben Szenen gegliederten Solo-Performance nimmt uns Akemi Takeya mit auf eine Reise durch Stationen ihrer persönlichen und künstlerischen Entwicklung. Sie versucht verzweifelt, rückwärts laufend auf einer Licht-Diagonale die zwei Endpunkte optimal zu treffen, und gibt schließlich auf. Sie zeigt auf vier queren Licht-Sektoren klassische Ballett-Übungen, zu denen sie Bachs „Air“ summt, welches ganz leise dann im Hintergrund erklingt.
Auf einem Trapez aus Licht umarmt sie sich, geißelt ihren alternden Körper, greift immer wieder ihren Nacken und Kopf, spricht leise Worte und changiert zwischen japanischer Kampfkunst und zeitgenössischem Bewegungs-Material.
Durch sich verdichtenden Nebel über jenen vier Licht-Sektoren wandern zu wummerndem Sound die breiten Strahlen des Deckenlichtes ganz langsam nach vorn, bis ins Publikum. Und Akemi Takeya bleibt unsichtbar.
Im kurzen Rock nun und barfuß tastet sie sich auf Licht-Geraden zögerlich von Punkt zu Punkt, begleitet von Klavier-Geklimper und ihrer Erzählung. An Jahreszahlen festgemacht beschreibt sie Stationen ihres Ringens um persönliche und künstlerische Integrität.
Sie redet, schreit wie ein Baby, „Dear Mother!“, weint echte Tränen, lacht, schimpft, singt mit klassisch geschultem Sopran eine an die Mutter gerichtete Klage in die Welt. Wow! Und das Handy spielt den Mitschnitt auf dem Boden liegend nochmals ab.
Und da steht sie, im Licht, lächelt uns an, prostet uns zu. Hier bin ich. So bin ich. „Sie dürfen jetzt klatschen!“Akemi

Die trotz aller kühlen Klarheit tiefe Emotionalität und Poesie ihrer Bilder, ihre Stimmgewalt, ihre Bühnenpräsenz, ihre Ausdrucksstärke und ihre Ehrlichkeit beeindrucken. Der anhaltende Kampf einer hoch sensiblen, fragilen Seele und einer künstlerisch gereiften Persönlichkeit, zerrissen zwischen den Kulturen.

Kandathil2Miranda Kandathil & Annina Machaz: „Ask the oracle – the future is now-“

Das Schweizer Schauspielerinnen-Duo „Follow us“, bestehend aus der in Köln geborenen Miranda Kandathil und der gebürtigen Züricherin Annina Machaz, stellte im Rahmen der Reihe [8:tension] für junge ChoreografInnen seine Arbeit „Ask the oracle -the future is now-“ als österreichische Erstaufführung vor. Ihr Erstlingswerk „Follow us“, in dem sie Interviews mit Marilyn Monroe und Amy Winehouse in einer Video-Installation nachstellten, so, als hätten sie sie selbst geführt, wurde 2014 mit dem Premio, dem Schweizer Nachwuchspreis für Theater und Tanz, ausgezeichnet.

In diesem ihrem zweiten gemeinsamen Stück lassen sie die beiden mythologischen Figuren Kassandra, die verflucht dazu war, dass ihren Weissagungen kein Glauben geschenkt wurde, und Pythia, einer aus dem Volk von Delphi ausgewählten Priesterin, aufeinandertreffen und miteinander agieren. Der offenbar von ihnen selbst verfasste Ankündigungstext im Programmheft macht ob seines darin formulierten hohen Anspruches stutzig. „Auf persönliche und gesellschaftliche Fragen folgen poetische Antworten.“ Und: „... verändert vielleicht die Selbstwahrnehmung der angereisten PilgerInnen.“ Was die PilgerInnen, also die ZuschauerInnen, dann erleben, ist, wie jener Ankündigungstext selbst, pure Ironie.

„Erkenne dich selbst“ steht auf dem Holzhäuschen. Und sonst noch auf der Bühne: Roter Teppich, riesige rosa Plastik-Muschel, Trampolin, zwei Feuerschalen, in denen es tatsächlich auch mal brennt, ein Wickel aus braunem Fell (das Opferlamm) ...Kandathil

Zaubertricks, zwei Bläser im Publikum, Schnaps ausschenken, Nacktheit, echte Tränen, die rituelle Schlachtung eines Opferlamms, das trotz Prügel-und-Messerstecherei-Orgie nicht sterben will und dann blutig ausgeweidet wird, eine in ihr Haus „entführte“ Zuschauerin, die danach vom Klopapier lesen muss, Nebel und viel roter Glitter-Regen. Und sie spielen zwei Interview-Sequenzen mit Monroe und Winehouse ein. Um nur einige der vielen Szenen dieser einstündigen Performance anzudeuten. Musikalisch reicht's von Schlager bis RnB, textlich von „Die Zukunft ist nicht vorhersagbar. Du hast sie zu gestalten.“ bis „Google meinen Geist!“, darstellerisch von Schauspiel bis Tanz.

Miranda Kandathil und Annina Machaz präsentieren mit „Ask the oracle -the future is now-“ ein Feuerwerk an Ideen, die sie, mit viel Ironie gewürzt, auf äußerst humorvolle Weise auf die Bühne bringen. Die meisten Szenen haben irgendwie irgendwas mit Jetzt und Zukunft, mit Hellseherei, Vorahnung, Weissagung, Erkenntnis, Wissen oder Weisheit zu tun. Den fehlenden roten Faden, die nicht vorhandene inhaltliche Geschlossenheit verzeiht man dieser dichten und höchst vergnüglichen Performance gern.

StamerPeter Stamer & Frank Willens: „In the Penal Colony“

Inspiriert von Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ aus dem Jahre 1914 präsentiert der in Berlin und Wien lebende Theatermacher Peter Stamer seine in einer 2-wöchigen Residency bei ImPulsTanz entstandene Arbeit „In the Penal Colony“ als Work in Progress Presentation. Die Innen-Architektur und die Technik des mumok als Szenerie nutzend, gibt der in Berlin lebende amerikanische Tänzer, Performer und Choreograf Frank Willens einen skrupellosen Henker, der von einem stählernen Aufzugskorb aus, begleitet von seinem Maschinisten Zoran Docmanovič, das auf die oberen drei Etagen des mumok verteilte Publikum einweist in die Technik und das Wirken seiner dreiteiligen Folter- und Tötungsmaschine, die in zwölf Stunden den Körper eines gefesselten Menschen mit einer Art Egge langsam durchdringt und den Gemarterten letztlich unter plastisch beschriebenen Qualen zu Tode bringt.

Aus seiner Begeisterung für die Technik und seiner umfänglichen, freudvollen Erfahrung mit dem langsamen Töten von Menschen keinerlei Hehl machend, seine selbstgerechten Urteile wegen nichtiger Vorwürfe allein, also „effizient“ fällend und vollstreckend, offenbart dieser Henker schließlich auch seinen Wahnsinn. Und er pfeift „Let it be!“

„Be Just“ schreibt er mit nassem Schwamm an die Wand und tanzt Andeutungen des Christus am Kreuz und des vitruvianischen Menschen nach Leonardo da Vinci. Und er spricht zum Publikum, noch lange. Über die nicht vorhandene Notwendigkeit von Empathie, da man ja weder den zu Tötenden noch die Tötenden kennt, über die Schaulustigen, die sich ergötzen am Schauspiel einer Hinrichtung, über die begrenzte, selbstgerechte Sicht europäischer Prägung auf die Welt ...Stamer2

Die wegen ihrer Irreversibilität kritisierte Todesstrafe ist letztlich nur ein untergeordneter Aspekt dieser äußerst vielschichtigen Performance. Der Zynismus des Schlächters schmerzt. Bilder eines vom Schreibtisch aus geführten Dronenkrieges tauchen auf, von technikbegeisterten, jeder Mitmenschlichkeit beraubten, weil ideologie-verblendeten Wesen geführt und von voyeuristischen, nach Leid und Qual lechzenden Massen in lügendurchsetzten Medien verfolgt. Weil das ja kurz mal das Leid am eigenen, unentwickelten Selbst überbrüllt ...

Großartig das komplexe, subversive Konzept, die beinahe spektakuläre Umsetzung und die eindringliche Darstellung von Frank Willens, tief berührend ob der drastischen Metaphorik, der perfektionistischen Kälte, der bedrohlichen anorganisch-mechanistisch-technisierten Nekrophilie, Und äußerst aktuell. Ein weiteres hoch politisches Stück bei ImPulsTanz.

„Practical Encyclopaedia, Chosen Portraits“ von Lenio Kaklea, am 24. und 26. Juli und „In the Penal Colony“ von Peter Stamer & Frank Willens, am 26. und 29. Juli im mumok; „ZZremix“ von Akemi Takeya, am 25. und 27. Juli im Odeon; „Ask the oracle -the future is now-“ von Miranda Kandathil & Annina Machaz, am 25. und 27. Juli im Kasino am Schwarzenbergplatz.

Impulstanz noch bis 11. August