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textneck1Mit Schmackes gleitet Alexis Jestin durch den kahlen Raum. Ein zu Boden gedrücktes Wesen. Seine Umgebungserkundungen treibt die kratzige Percussion der seitlich hinten im Schwere Reiter live agierenden Musiker der Formation 48nord an. Für Sekunden lässt er seinen Körper horizontal nur Zentimeter über dem weißen Tanzfloor auf den Kuppen seiner Schuhe und Fingerspitzen tanzen. Das ist virtuos, doch zugleich scheint mit der Koordination etwas nicht zu stimmen.

Kopf und Nacken winden sich wie fremdgesteuert, ziehen den Rest der Gliedmaßen nach. Höchst präzise und in totaler Konzentration werden Gehen, Einknicken oder das kurze Salsa-Getrippel um die eigene Achse abgespult. Als Eindruck bleibt: willentlich passieren diese Sequenzen nicht.

Dass Münchens freie Tanzszene aufgrund origineller Bewegungsqualität überzeugt und ein virtuelles Thema mit einleuchtenden Schrittfindungen ohne zusätzliches Showbrimborium vortrefflich umsetzt, ist eher selten. „Hybrid“ lautete Moritz Ostruschnjaks Arbeitstitel für ein Projekt, in dem der ehemalige Student der Iwanson Schule für Zeitgenössischen Tanz Veränderungen der körperlichen und sozialen Erlebnisfähigkeit durch die digitale Technisierung untersuchen und formal umsetzen wollte. Dafür erhielt er eine städtische Debütförderung von 18.000 Euro. Wenig genug, um die drei mit Choreografie und Performance bestens vertrauten Männer von 48nord in einen von Tanja Rühl lightdesignten Chatroom zu sperren.textneck2

Bei Tänzer Isaac Spencer flippt immer wieder ein Arm nach hinten weg. Halb Mensch, halb Maschine robotert er durch die Gegend und arbeitet lautlos mit tourettartigen Ticks. Anna Fontanet, die gummiballartige und kautschukwendige Frau im ansonsten männlichen Gefüge, klebt plötzlich wie eine Figur von Keith Haring an der Rückwand. Solistisch rutscht sie auf die Knie, dreht sich über die Schultern, schlurft voran – überrascht vom eigenen Bein, das auf einmal zur Stirn hochschnellt. Zugkräftig schöne, innerhalb der Uraufführung „Text Neck“ (so der Premierentitel) sinnreiche Unberechenbarkeit.

Wer sind diese Kommunikationspartner, mit denen wir uns über eine flimmrige Bildschirmscheibe über Gott, Privatheit und die Welt austauschen? Zu Anfang haben alle auswechselbare Schilder unter die Nasen geklemmt. Grinsende oder verklemmte Münder. Unter ihren zwinkernden Augen trägt Anna Fontanet auch mal Bart à la Conchita Wurst. Später posiert sie mit dem Mäulchen einer Katze. Das erwartungsgemäß resultatlos verlaufende Frage- und Antwortspiel aus dem Off zwischen Realperson und maschinenerzeugter Stimme („I am robot“) trägt zum Verständnis nicht viel mehr bei als die dank superprofessioneller Interpreten ohnehin gut in puren Tanz verpackten Messages.

textneck3In kaltblaue Beleuchtung getunkt lässt Ostruschnjak – choreografisch unterstützt von Daniela Bendini (seit 2015 stellvertretende Ballettdirektorin des Staatstheaters am Gärtnerplatz) – zwischendurch die Masse der drei Körper um- und ineinander verdreht wie ein unkontrolliertes Knäuel herumrollen. Es gibt kein Halten, auch wenn die Tänzer sich kurz touchieren. Zusammenstöße sind in den schnellen Rennsequenzen vorprogrammiert. Denkt man. Dann wird gerade noch rechtzeitig auf der Fußaußenkante gestoppt. Man duckt und schlängelt sich in Gegenrichtung weg. Nach 60 Minuten surrt nur noch das allein im Raum stehengebliebene Band-Equipment. Starke Leistung. Wiederaufnahme dringend angeraten!

„Text Neck“ von Moritz Ostruschnjak im Schwere Reiter, Uraufführung am 8. Dezember, weitere Aufführungen 9. und 10. Dezember 2016