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liedvondererde1Die Kunst des sinfonischen Balletts. Seit Beginn seiner Karriere bildet das kompositorische Werk Gustav Mahlers einen Fixpunkt in der Arbeit von John Neumeier. 15 Ballette zu Mahlers Musik sind inzwischen entstanden. Und auch „Das Lied von der Erde“, dessen Hamburger Fassung unlängst als erste Premiere der Spielzeit gezeigt wurde, resultiert aus dieser intensiven Auseinandersetzung.

Bereits als junger Tänzer hat Neumeier beim Stuttgarter Ballett in Kenneth MacMillans Kreation von Mahlers „Ein Lied von der Erde“ mitgewirkt. Eine für ihn sehr wichtige Erfahrung und wesentliche Inspirationsquelle für seine eigenen Mahler-Stücke: „Die Bilder dieses Balletts haben sich tief in mir eingeprägt und sind ein Teil von mir als Tänzer und Choreograf geworden.“ Lange Zeit war „Das Lied von der Erde“ für Neumeier fest mit der Choreographie MacMillans verbunden, doch Anfang 2015 entwickelte er mit dem Ballett der Opéra de Paris dann doch eine eigene Fassung. Für das Hamburg Ballett hat Neumeier seine Choreographie zu Mahlers Sinfonie, dem vielleicht persönlichsten Werk des Komponisten, nun nochmals überarbeitet.

Wie zwei Erzähler stehen der Tenor Klaus Florian Vogt und der Bariton Michael Kupfer-Radecky links und rechts am Bühnenrand. Hinter ihnen ein von John Neumeier klar gestalteter Raum, inszeniert in kühlem Blau, dann wieder in leuchtenden Rotorange- und Goldtönen. Es gibt eine kleine, schräg installierte Rasenfläche, die flexibel verschiebbar ist. Einen Spiegel als Himmel und am imaginären Horizont die Silhouette eines großen Mondes. Oh, Mond! Zum Schwelgen schön. Mal schaut er kalt und hell, mal tief dunkel mit schimmernden Rändern, mal wärmen wir uns an seinem satten Glanz.liedvondererde2

Mahlers Musik, unter der Leitung von Simon Hewett von den Hamburger Philharmonikern fein nuanciert, findet bei Neumeier eine subtile Umsetzung. Variationen von Dur und Moll, ein Eindruck von Unsicherheit und schwebenden Gefühlen. Manche der Stimmungen und Emotionen, die geschaffen werden, basieren auf Mahlers Liedtext, andere sind frei gestaltet. Die Szenen bieten keine verbindliche Lesart. Handlung und Figuren entziehen sich jeglicher Psychologisierung, sie bleiben abstrakt, rätselhaft und fließend.

liedvondererde3Bewegungen des Kreisens, Umkreisens. Hebungen starrer Körper. Selten hohe, expressive Sprünge. Neumeier hat für seine Mahler-Choreographie ein äußerst stringentes, strukturiertes Bewegungsvokabular gefunden. Gefühle, die in der Musik zum Ausdruck gebracht werden, formulieren sich in einer Dramaturgie der klaren Linie. Zwischen den Tänzern entsteht ein komplexes Geflecht von Begegnungen. Aus einem Solo wird ein Pas de deux, aus dem Pas de deux eine Ensembleszene. Alexandr Trusch in T-Shirt und Jeans bildet dabei den Ausgangs- und Mittelpunkt dieser Reise durch eine emotionale Landschaft. Ihm zur Seite, in dynamischem Austausch, Karen Azatyan. Eine Doppelung, ein Traumbild. Und auch zusammen mit Hélène Bouchet, in weißem Kleid, vielschichtig und ausdrucksstark, entstehen intensive, poetische Szenen.

Dass Mahler eine Sammlung chinesischer Gedichte aus dem 8. Jahrhundert, die ins Deutsche übersetzt worden waren, für seine Komposition benutzt hat, zeigt sich bei Neumeier in zarten Zitaten, im Bewegungsgestus, in den Kostümen. Eine kleine Geste, eine angedeutete Pose reichen ihm, um einen Rahmen für die Tänzer zu schaffen. Das ist elegant und schön, mitunter aber wirkt diese Choreographie seltsam verschlossen. Vielleicht auch, weil Erleben und Reflektieren hier eins geworden sind. So als würden die Emotionen der Figuren im Moment ihres Entstehens gefiltert und neutralisiert. Neumeier hat ein ungewohnt in sich gekehrtes Ballett geschaffen, das sich dem Zuschauer zwar nicht entzieht, aber eben auch nicht immer öffnet. Ein spannendes Mahler-Projekt.

John Neumeier / Gustav Mahler: „Das Lied der Erde“, Premiere beim Hamburg Ballett am 4. Dezember in der Staatsoper Hamburg. Weitere Vorstellungen: am 9., 13., 15. und 17. Dezember 2016; 15. Juli 2017