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guerrilla1Am Wochenende ging der Steirische Herbst mit einem Wechselbad der Gefühle zu Ende: auf der Bühne mit Endzeitstimmung bei der spanischen Formation Il Conde de Torrefiel und mit der spirituellen Suche des marokkanischen Tänzers/Performers Taoufiq Izzediou. Noch bis ins nächste Jahr sind die höchst interessanten diesjährigen Festival-Ausstellungen „Body Luggage“ und „Geknetetes Wissen“ im Kunsthaus Graz zu sehen.

Dystopie in Frontalunterricht. 70 junge Steiererinnen und Steirer versammelten Tanya Beyeler und Pablo Gisbert (aka Il Conde de Torrefiel) auf der Bühne, um in drei Tableaux mittels Projektionen apokalyptische Messages zu verbreiten. Das erste Bild kehrt die Theatersituation um, die Akteure sitzen in einem Vortragssaal mit dem Gesicht zum Publikum und hören den Erläuterungen von Romeo Castellucci über seinen Theaterbegriff (auf italienisch über Bandeinspielung) mehr oder minder aufmerksam zu. Gleichzeitig werden vier der Anwesenden (E., T., A. und J.) via Textinserts vorgestellt. Banale, grausame, prägende oder nichtssagende Geschichten aus dem Leben der vier Protagonisten werden immer wieder eingespielt – Settings dafür sind in der Folge eine Tai-Chi Stunde und eine Rave … während die Welt draußen (ebenfalls auf Textprojektionen) zum Vernichtungsschlag ausholt. guerilla2

Kernstück der Textfragmente ist ein Militärpakt zwischen China und Russland (später kommen auch Indien und Nordkorea), der 2023 die ganze Welt erobern wird. „Guerilla“ hieß das Werk, doch ganz im Gegenteil zu einem Guerilla-Krieg wird eben die Besetzung der Welt durch die verbündeten Staaten thematisiert. Jedenfalls wird das Publikum mit schlagzeilenartigen Statements in einen Angstzustand manipuliert, denn in einer Art intellektueller Kronenzeitung wird die Gefahr ignoriert: das Proletariat ist öd, alles ist Pop, das Christentum ist retro, Islam ist trendy, Töten ist menschlich, lauten einige der Aufmacher. (Dabei gehen interessante Ideen wie „die Langeweile ist anti-ökonomisch“ völlig unter.) Klar, dass diese Angstmache auch akustisch unterstützt wird. Im dritten Bild, einer Rave, tanzen die Mitwirkenden zu ohrenbetäubendem Sound ab, während uns das Insert informiert, dass in den USA vier Atombomben gefallen sind … Die Message ist wohl klar, doch passiert hier, was heutzutage im Theater (zu) oft passiert: Die permanente Überreizung wird zum Programm und damit werden die Mechanismen der tagtäglichen Medienmanipulation, die geopolitische Nachrichten und persönliche Befindlichkeiten auf einer Ebene nivellieren, eins zu eins übernommen. Und dem Publikum wird frontal verbaler Weltuntergang geboten. Das ästhetische Highlight des Abends: die Lichtregie (von Ana Rovira) bei der Rave.

izzediouIn „En Alerte“ erzählt Taoufiq Izzediou den Konflikt zwischen Tradition und Moderne als autobiografische Geschichte. Formale Feinheiten sind seine Sache nicht und so wird seine Botschaft mit einfachen Bildern und Gleichnissen übermittelt. In der modernen Welt fühlt sich der marokkanische Tänzer (und praktizierende Moslem) wie ein Raumfahrer (und trägt dementsprechend einen Motorradhelm) – bar der sozialen Einbindung, ohne spirituelle Verankerung, irrt er einsam herum. Der anfangs selbstgefällig, gegenüber seinen Musikern autoritär agierende, schwarz gekleidete Mann mutiert, nachdem ihn diese verlassen haben, zu einem verletzlichen Wesen, das sein Publikum um eine Umarmung bittet. Sie wird ihm gewährt, doch hilft sie offenbar nicht weiter. Erschöpft sinkt er in einen Lehnstuhl. Schließlich kommt Hoffnung auf: Musikalisch unterstützt von Mathieu Gaborit und M’Aalem Stitou schlüpft Izzediou in sein weißes Gewand, während auf dem schwarzen Bühnenhintergrund das Wort „Gott“ in verschiedenen Sprachen zu Boden rieselt. In einem meditativen Tanz legt er nun eine Bewegungsqualität an den Tag, die in strengem Kontrast zu den Spasmen und Schreigesängen des ersten Teils steht: Nach der spirituellen Begegnung wandelt sich der kräftige Tänzer zu einem Mover mit weich fließenden Gesten.holger

In ihrer Ausstellung „Body Luggage. Migration von Gesten“ verwebt die Kuratorin Zasha Colah verschiedene Reflexions- und Zeitebene zum Thema der Migration, Kontinuität, Körper, Archiv und Identität. Wohin wir auch gehen, unser Körper ist ein Reservoir der Erinnerungen, die unsere Bewegungen und Gesten prägen. Auch in einem Transfer in eine andere Kultur bleiben sie erhalten, sind lebendig, und verändern sich doch gleichzeitig durch neue Einflüsse. Videos, Installationen und historische Dokumente nehmen den Besucher auf eine Reise durch unterschiedliche Kulturen und neue künstlerische Verortungen. Da spürt etwa der burmesische Künstler Sawangwongse Yawnghwe in seiner filigranen Installation der Geschichte seines Landes in einer Art Familienaufstellung anhand von Miniaturobjekten nach, wird Hilde Holgers Flucht vor den Nazis und ihre Ankunft in Indien mit Bildern und Briefen nachvollziehbar. Simon Wachsmuth ist der Enkel des Tänzerpaares Gertrud Tenger (aus Wien) und Werner Wachsmuth. Seine Auseinandersetzung mit der Flucht von Tänzern vor dem Faschismus wird in einem Video von Loulou Omer, (die selbst Tochter einer Gertrud Kraus-Schülerin ist), verkörpert. Die Kollision mit den zerbrechlichen Gegenständen, die im Video auftauchen (aus dem Nachlass einer Verwandten von Wachsmuth in ihrem Exil in Shanghai), wird von der Tänzerin mit äußerster Vosicht und größter Sorgfalt vermieden. Die indische Choreografin Padmini Chettur überführt in ihrem Video Elemente der traditionellen Musik- und Tanzkultur in die Gegenwart. Die Stoffe, die Kemi Bassene für ihre Zeltkonstruktion verwendet, verweisen auf Gespräche, die die die Künstlerin mit Flüchtlingen auf Lampedusa geführt hat. Ebendort sammelte Caecilia Tipp Sound- und Bildmaterial, das sie zu einem Musikstück weiterentwickelt hat. Die Ausstellung spannt also einen Bogen bis zur Gegenwart und überlässt es durch eine intuitive, nicht hierarchische Anordnung ganz dem Betrachter, Bezüge der einzelnen Exponate untereinander herzustellen. Zu der Ausstellung ist ein reich illustrierter Katalog erschienen mit weiterführenden Informationen zum Thema, etwa einem Interview der Kuratorin mit der Tanz-Zeithistorikerin Laure Guilbert.

aiweiweiEinen Stock höher widmet sich eine weitere sehenswerte Ausstellung mit dem Titel „Geknetetes Wissen“ der Keramik. Werken des chinesischen Künstlers Ai Weiwei und des Engländers Edmund de Waal (im Kunsthistorischen Museum in Wien ist zur Zeit eine von ihm gestaltete Ausstellung zu sehen) stehen Stücke der asiatischen Frühkeramik oder der Meißner Porzellanmanufaktur gegenüber. Außerdem sind Arbeiten von Kasimir Malewitsch, Isamu Noguchi, Joan Miró, Pablo Picasso und anderen zu bewundern.

Steirischer Herbst 2016: El Conde de Torrefiel „Guerilla“ am 15. Oktober im Orpheum.

Taoufiq Izzediou „En Alerte“ am 15. Oktober im Dom im Berg. Die Vorstellung ist am 17. November 2016 im Zuge des out of/border Festivals im Tanzquartier Wien zu sehen.

Kunsthaus Graz: „Body Luggage. Migration von Gesten“ bis 8. Jänner 2017 im Space02, „Geknetetes Wissen“ bis 19. Februar im Space01

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