Hauptkategorie: Kritiken

rearray_guillemEigenwillig, sensibel, herausragend. Sylvie Guillem zeigte im Festspielhaus St. Pölten in zwei Auftritten ihr gesamtes unfassbares Spektrum an Körperausdruck. Der Abend „Ek / Forsythe / Kylián: Sylvie Guillem – 6000 miles away“, produziert in Kooperation mit Sadler’s Wells London und der Startänzerin selbst, brachte das Festspielhaus St. Pölten zum Kochen. Die entsprechenden Hymnen lassen sich kaum finden.

Die Beine schwingen 90 Grad in den Himmel, grätschen auf 180 und lassen den sehnigen Körper der Tänzerin unwirklich schwebend und dann wieder ganz wirklich, sogar sexy erscheinen. In keiner Position ist der (ehemalige und weiterhin als Gast tanzende) Étoile der Pariser Oper irgendeine Anstrengungen anzusehen. Sie schießt scharf und präzise und ist dennoch ganz im Einvernehmen mit den Klängen, die David Morrow für Forsythe komponiert hat. Dieser, der Choreograf William Forsythe, rebellisch wie die Guillem, hat den Pas de deux „Rearray“ eigens für sie geschaffen. Nicolas Le Riche ist ihr seit langem vertrauter Partner.

Eigentlich hätte der Abend nach diesem, den Stars auf den Körper geschriebenem, Stück bereits zu Ende sein können, so eindrucksvoll und virtuos zog er, changierend zwischen Licht und Schatten, zwischen dem zarten Körper der Guillem und der verlässlichen Kraft Le Riches, alle in seinen Bann. Guillem muss nur den Kopf in den Nacken legen, den kleinen Finger spreizen und schon stockt uns der Atem. Forsythe und Guillem, das ist ein ideales Paar. Alles ist klar und rein, ohne Pathos, nahezu trocken, das klassische Ballett schimmert durch und ist doch längst vergangen, jeder Wimpernschlag hat seinen Sinn nur die Persönlichkeit der Tänzerin, das Individuum Sylvie Guillem bleibt im Dunklen.

Das Mittelstück des Abends ist ein Ausschnitt aus Jiri Kyliáns 2002 uraufgeführter Choreografie „27'52''’’ zu einer Komposition von Dirk Haubrich. Ein wunderbares, melancholisches Stück, wenn man alle 27 Minuten und 52 Sekunden sehen darf. Aus dem Kontext gerissen, stand der Pas de deux (Aurélie Cayla / Lukas Timulak) auf verlorenem Teppich (der entrollt und am Ende wieder eingerollt wird). Fast ein Missbrauch des Choreografen Kylián, diente doch der Einschub nur als Pausenfüller für dem nächsten Auftritt der Guillem nach der Pause. Doch dramaturgisch gut platziert, man braucht schließlich auch nach Sternenregen und Sonneneruption etwas Erholung, selbst wenn die Phänomene noch so spektakulär sind.

Nach der Pause also „Bye“ von Mats Ek zum 2. Satz von Beethovens letzter Klaviersonate (Nr. 32, c-moll, op 111). Bühne und Kostüme hat Katrin Brännström gestaltet. Die Guillem in einem Solo. In Alltagskleidung kommt sie vorsichtig hinter einer Projektionswand hervor, auf der ihr Gesicht, teilweise auf ein riesiges Auge beschränkt, zu sehen ist. Offenbar hat sie forschend geprüft, was sie erwartet, wenn sie den fremden Raum betritt. Die gleiche Exaktheit wie bei Forsythe, aber die Bewegungen sind weicher, auch akrobatischer und ausdrucksstärker. Schließlich ist Mats Ek dem Geschichtenerzählen nicht abgeneigt. Die Frau ist aus dem Alltag herausgetreten, um sich zu sammeln, sich zu erinnern und zu einer Entscheidung zu kommen. Mehrmals streckt sie sich im Handstand oder steht auf dem Kopf, dann wieder hämmert sie wütend gegen die Wand. Während die Frau auf der Bühne vergangenen Gefühlen nachhängt, sie wieder beiseite schiebt, werden diese auf der Projektionswand schemenhaft manifest. Ein Hund, ein älteres Paar, ein Mann, der sich abwendet und im Hintergrund verschwindet, auch die Tänzerin selbst, live gefilmt, mischt sich unter die Bilder. Schon nach wenigen Minuten hat sie Schuhe und Socken beiseite geworfen und tanzt barfuß weiter, turnt und springt fällt auf den Rücken, liegt da als hilfloser Käfer. Man wünscht sich, die Geschichte wäre endlos.

Auch „Bye“ ist speziell für die Guillem kreiert und zeigt ein ganzes (Frauen-)Leben zwischen Frohsinn und Zorn, Erinnerung und Akzeptanz der Realität. Am Ende, als eine Menge von Personen aus der Erinnerung (auf der schmalen, einer Tür gleichenden Projektionswand) auftaucht, hat sich die Frau (die Tänzerin? der Star?) abgefunden, zieht Socken und Schuhe wieder an und kehrt zurück hinter die Wand, zu den anderen.

Für diese Produktion erhielt Sylvie Guillem in London im Rahmen der „12th National Dance Awards“  den Preis in der Kategorie „Hervorragende weibliche Performance (Modern)“.

„Ek / Forsythe / Kylián: Sylvie Guillem – 6000 miles away“, Festspielhaus St. Pölten, 19. Mai 2012