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melancolian_3133klPolitisch oder privat? 1976 – zwei einschneidende Ereignisse im Leben von Lola Arias und ihrer Mutter. Das Militär putschte sich in ihrer Heimat Argentinien an die Macht, sie selbst erblickte das Licht der Welt und ihre Mutter verfiel in eine Depression. Das Auftragswerk der Wiener Festwochen "Melancholie und Protest" eröffnete den Lateinamerika-Schwerpunkt und kontrastiert zwei Möglichkeiten mit politischem Druck umzugehen.

Lola Arias arbeitet mit einem Guckkasten-Zimmer auf der Bühne, es gibt einen Jalousien-Schiebevorhang auf dem auch Projektionen zu sehen sind: Original-Interviews mit ihrer Mutter. Die Autorin selbst moderiert und kommentiert, manchmal tritt sie auch in die Geschichte ein, indem sie die Bühne betritt und mitspielt oder indem sie zum Beispiel als gesangliche Untermalung der Lovestories ihrer Mutter „Love me tender“ singt.

Die Mutter von Lola Arias, dargestellt von Elvira Onetto, ist ein „Robin Hood der Shopping Center“, sie verteilt Gestohlenes unter „Bedürftigen“: eine Spieldose mit der Internationalen für einen kommunistischen Freund. 12 tiefe Teller, 12 flache Teller, 12 Dessertteller, täglich aus einem Hotel entwendet. Wohl auch aus Langeweile - sie hatte ihren Mann zu einer Konferenz begleitet.

Eine linke, aber nicht politisch aktive Literaturprofessorin mit kleptomanischen Zügen, die sich in die innere Emigration zurückzog. Die die Diktatur erlebte, ohne zu verstehen, was vor sich ging. Die an der Universität unterrichtete und ihre Schüler verschwanden. Die sich ins Bett zurückzog und in einer ewigen Kindheit lebte. Ihre Berichte an die gut zwanzig Psychotherapeuten im Laufe ihres Lebens waren von drei Themen bestimmt: Begräbnisse, Gymnastikstunden und Protestbewegungen.

Scherenschnittartig fügt die Autorin und Regisseurin Lola Arias Bilder und Sequenzen der Erinnerung aneinander. Sie ist eine Angehörige der Generation „danach“, nach der Zeit der Diktatur und  Gewalt, nach den Widerstandsbewegungen ihrer Eltern und Großeltern. Politisches tritt hinter Privates zurück, war die Autorin in der brisanten Zeit ja noch ein Kind. Erst später, als sie sich die Frage nach den Gründen der Depression ihrer Mutter stellt, kann sie auch die Möglichkeit erkennen, dass diese auch eine Folge politischer Zusammenhänge, des Putsches und der Diktatur, sein könnte.

Die Inszenierung lebt auf durch die zwei weiblichen und männlichen Statisten, die die Szenen vervollkommnen und die allesamt „ein Alter jenseits der statistischen Lebenserwartung“ haben. Diese Nebendarsteller sorgen im Verlauf für eine Überraschung: sie stürmen die Szenerie und verschaffen sich Gehör für ihre Anliegen.

Diese älteren Menschen, denen die Gesellschaft nun eine Randstellung zugewiesen hat, die ihr Leben lang gearbeitet und viel gesehen haben – die Mondlandung, den Kommunismus, den Konsumismus, die Militärmärsche, die Explosion der Atombombe, den Einzug des Internets und vieles mehr, diese „Ausgedienten“ reißen nun den Abend an sich für ihre eigene Protestkundgebung, denn sie wollen nicht länger Statisten sein: „Wir werden die Internationale der Alten sein. Denn in vielen Ländern gibt es Weißhaarige mit den gleichen Problemen wie wir. Wir verkauften unsere Zeit für eine Idee von der Zukunft. Aber die Zukunft ist schon da.... Wir verdienen etwas Anderes, denn noch sind wir da...“

Lola Arias bezieht sich damit auf eine Protestbewegung in Buenos Aires: Donnertags versammeln sich vor dem Justizpalast alte Menschen. Einige am Stock, andere kommen mit Sesseln und protestieren im Sitzen. Sie kommen aus unterschiedlichen politischen Lagern, aber sie sind geeint durch die Situation, in die sie der Weg allen Lebens gebracht hat: das Alter. Ein Problem, dem sich die westliche Welt nun auch verstärkt widmen  muss: Überalterung, Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems, Probleme die bisher in Europa noch zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.

Der  Lateinamerika-Schwerpunkt der Wiener Festwochen steht unter dem Motto „La vida después – Das Leben danach“, benannt nach der letzten argentinischen Produktion von Lola Arias, in der Mitte-Dreißigjährige die Rollen ihrer Eltern und Verwandten im privaten und auch gesellschaftlichen Leben recherchierten.  Die jungen Autoren und Theatermacher in Lateinamerika lassen einen Trend zur Aufarbeitung der Vergangenheit erkennen. Sie begeben sich auf die Spuren der Generation vor ihnen, ihrer Eltern, die die Diktatur erlebten und an die Schnittpunkte zwischen Privatem und Öffentlichen.

Wenn lateinamerikanische Künstler nach Europa eingeladen werden, so geht man meist davon aus, dass sie sich mit Diktatur und Gräuel, mit politischen Themen befassen werden. Das bedeute einen gewissen Erwartungsdruck, meint Lola Arias, europäische Künstler seien freier auch private Themen zu behandeln. So habe sie sich bei ihrer Arbeit immer auch mit der Frage der Relevanz des Themas konfrontiert. Aber da das Private politisch ist, liegt sie damit wohl nicht falsch. Und wo genau wäre die Trennlinie zu ziehen?

„Melancholie und Protest“ von Lola Arias war ein sanfter, durchaus humorvoller Einstieg. Die noch folgenden Stücke in dieser Lateinamerika-Reihe sind heftiger Tobak: „Villa + Discurso“ von Guillermo Caldéron aus Chile, der sich mit Folter unter Pinochet in Santiago und den Möglichkeiten des Gedenkens und Erinnerns durch die Generation danach beschäftigt. Oder die Arbeit des kolumbianischen Autors und Regisseurs Jorge Hugo Marin, das im Palais Kabelwerk als Stationendrama aufgeführt wird: „Sobre algunos asuntos de familia“, das von Gewalt in verschiedenen kolumbianischen Gesellschaftsschichten handelt.

Lola Arias, "Melancholie und Protest", Uraufführung am 13. Mai, gesehen am 14. Mai 2012, im Brut im Künstlerhaus

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