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Mit „Illusionen – wie Schwanensee” hat John Neumeier ein frühes Stück seines Repertoires wieder auf den Spielplan gesetzt, das bewegt und begeistert. Die Aufführung war ein Höhepunkt der traditionellen Hamburger Ballett-Tage und endete unter Tränen. Hamburgs langjährige Erste Solotänzerin Joëlle Boulogne feierte in  Rolle der Natalia ihren letzten Bühnentriumph.

Der Kontrast könnte nicht schärfer sein. Am Vortag das Chinesische Staatsballett, ohne Fehl und Tadel und doch nicht überzeugend, weil der menschliche Faktor gefehlt hat. Und dann John Neumeiers Compagnie, die ihre Rollen nicht nur tanzend vorzeigen, sondern mit Leib und Seele sind, was sie darstellen. Man lebt, liebt und leidet mit ihnen und ist am Ende so erschöpft und verausgabt wie die herausragenden SolistInnen des Hamburg Ballett.

Die Neueinstudierung des Balletts „Illusionen – wie Schwanensee“ hat nichts vom Zauber es alten Märchens und der Magie des völlig neuen dramaturgischen Konzepts verloren. Neumeiers Ballett ist 1976 entstanden, da war der 34jährige seit drei Jahren in Hamburg und gerade dabei, die kühlen Hanseaten zu erobern. Der damals junge Choreograf hat mit der Verstrickung des Märchens von den in Schwäne verwandelten jungen Frauen mit der tragischen Geschichte eines Königs (der bayerische „Märchenkönig” Ludwig II., dessen noch immer ungeklärter Tod im Starnberger See sich heuer zum 125. Mal jährte, ist unschwer zu erkennen) wahrlich ein Meisterwerk geschaffen. Hart an der Realität des Lebens Ludwigs und tief in seinen Träumen und Wünschen, zeigt Neumeier einen Menschen, der seiner Liebe nicht leben darf, sich in eine Märchenwelt flüchtet und schließlich an der ihm fremden Welt draußen zerbricht.

Schon damals hatte Neumeier keine Scheu, den Tod in Gestalt eines Schutzengels, eines alter Egos, eines Doppelgängers, auf die Bühne zu bringen. In den „Illusionen “ ist es „der Mann im Schatten“, der Ludwig begleitet und sowohl in den Akten, die in der „Wirklichkeit” spielen als in den „Erinnerungen” des Königs in verschiedenen Masken auftritt. Schon im Vorspiel wird der König ins Gefängnis gebracht, knarrend schließen sich die Türen, er bleibt allein – mit seinen Erinnerungen. Diese Erinnerungen geben Neumeier und Jürgen Rose, der für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich zeichnet, Gelegenheit die gesamte Pracht eines bunten Aktes zu entfalten: Das Richtfest für Neuschwanstein und ein Maskenball bringen nicht nur das Corps de ballet auf die Bühne, sondern auch die Eleven der Ballettschule und Statisten sonderzahl. Ein buntes Treiben, an dem sich das Auge nicht satt sehen kann.

Ganz anders die „Zweite Erinnerung” an die „Separatvorstellung »Schwanensee«”. Der König fällt in die Geschichte von Odette, die der Zauberer Rotbart (getanzt vom Darsteller des Schattenmannes) samt ihrem Gefolge in einen Schwan verwandelt hat, direkt hinein, identifiziert sich ganz mit der Märchenwelt und stürzt auf die Bühne als romantischer Don Quixote, um die Prinzessin zu retten. Natalia, die ungeliebte Braut, sieht Ludwigs Verzauberung und schleicht tief betroffen aus dem kleinen Theater. Um seine  Choreografie des 20. Jahrhunderts mit jener (originalen) des 19. Jahrhunderts zu verknüpfen, lässt Neumeier in dieser und auch in der „dritten Erinnerung: Maskenball” den Pas de deux zwischen Siegfried/Ludwig und Odette sowie den „Grand pas de deux” des Königs (Siegfried) mit Natalia (Odile) in der überlieferten Choreografie nach Lew Iwanow beziehungsweise Iwanow und Marius Petipa tanzen. Ein unvergessliches Erlebnis.

Unvergessen wird auch das Ende bleiben. Noch einmal versucht Natalia den im Gefängnis isolierten, in seiner Traumwelt umher irrenden König für sich zu gewinnen. Er schickt sie fort, die Wahnvorstellungen werden immer heftiger der „Mann im Schatten” jedoch wird immer realer. Schließlich erkennt der König, dass der Gefährte sein Retter ist, ein Todesengel, dem er sich anvertrauen darf. Wie Neumeier und Rose dann in einem letzten umwerfenden Pas de deux der beiden Tänzer den Tod des Königs auf die Bühne bringen, rührt, nicht zuletzt der tänzerischen und darstellerischen Leistung wegen, zu Tränen. Zum ersten Mal während der gut dreistündigen Vorstellung klatscht das Publikum der Ballett-Tage nicht in den Takt hinein, bleibt erschüttert und stumm, bis der Vorhang fällt. Ein Labsal für den engagierten und umsichtigen Dirigenten Simon Hewett, der die Süße der Schwanenmusik ebenso spielen ließ wie er den Gefängnisszenen („Wirklichkeit“) die nötige Dramatik gab.

Neumeiers Auffassung von Ballett (Choreografie und Dramaturgie), seine phänomenale Musikalität und seine Vorliebe, Geschichten von Menschen zu erzählen, denen er hinter die Maske blickt und die oft zwischen den Welten (ob die nun Kunst und Leben, Sehnsucht und Erfüllung, oder Wahn und Wirklichkeit genannt werden) tanzen und meist scheitern, ist trotz einer überbordenden Üppigkeit in den bunten Akten, trotz einer nahezu beleidigenden Didaktik der Requisiten (das Modell von Neuschwanstein etwa, das immer wieder darauf hinweisen soll, wer dieser „König” denn sei) schon deutlich zu erkennen, auch wenn noch manche Passage an seinen Lehrer John Cranko erinnert. Gut ist zu erkennen, dass John Neumeier sich selbst treu geblieben ist. Heute muss er nicht mehr alles zeigen, was ihm einfällt, hat gelernt zu abstrahieren und zu reduzieren. Dennoch sind schon diese „Illusionen“ eindeutig „typisch Neumeier“.

Die Darsteller müssen, weil auch das Wiener Ballettpublikum sie längst kennt, nur beim Namen genannt werden, ihre Technik und Ausdruckskraft zu preisen, ist überflüssig. Carsten Jung gibt dem „Mann im Schatten”  Profil und Kontur, ein kräftiger Tänzer, geheimnisvoll, aber keineswegs zum Fürchten; Thiago Bordin, ein zarter, nervöser Ludwig, der schon in der ersten Szene für sich einnimmt. Überzeugend gelingt ihm auch der Wechsel zwischen den realen und den Traumszenen, zwischen Pantomime, der originalen und der neumeierschen Tanzsprache. In der „Separatvorstellung” tanzt wie nahezu immer, als Wesen, nicht von dieser Welt, Anna Polikarpova die Odette. Joëlle Boulogne ist Natalia, die für den König beim „Maskenball” zur Schwanenprinzessin wird. Ihr Auftritt macht diese 147. Vorstellung des Hamburg Balletts von „Illusionen – wie Schwanensee” zu einem ganz besonderen Ereignis. Die Erste Solotänzerin tanzte zum letzten Mal auf der Bühne der Hamburger Oper. Wohl deshalb war ihr letzter Pas de deux mit dem König so eindringlich und bewegend. Blumenbouquets, Küsse, Umarmungen, Applaus und auch Tränen. Ein würdiger Abschluss des Abends.

„Illusionen wie Schwanensee“, 37. Hamburger Ballett-Tage, 7. Juli 2011.

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