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Stoic0Göteborgs Operan präsentiert mit dem Tanzabend „Dust to Dust“, zwei Arbeiten der zur Zeit interessantesten und erfolgreichsten, Choreografen. Sidi Larbi Cherkaoui, der im November den Europäischen Theaterpreis entgegennehmen wird, ist mit der Weltpremiere seines Werkes „Stoic“ in Göteborg zu sehen. Die schwedische Premiere von Crystal Pites „Solo Echo“, die in diesem Jahr den Titel „Choreografin des Jahres“ der Zeitschrift „Tanz“ erhalten hat, beschließt den Abend.

Sidi Larbi Cherkaoui verbindet inzwischen eine mehrjährige und erfolgreiche Zusammenarbeit mit der GöteborgsOperans Danskompani. Nach seinem von geometrischen Formen geprägten „Noetic“ (tanz.at berichtete anlässlich des Gastspiels im Festspielhaus St. Pölten) und dem im wahrsten Wortsinne erdverbundenen „Icon“ (2016) in dem er 3,5 Tonnen Lehm auf die Bühne brachte, folgt nun das dritte Kapitel seiner Zusammenarbeit mit der größten institutionellen zeitgenössischen Tanzcompagnie Skandinaviens die hier gemeinsam mit Tänzern aus Cherkaouis eigener Compagnie Eastman zu sehen ist.

Anlässlich der Premiere von „Stoic“ an der Göteborger Oper traf Autor und Fotograf Ingo Schäfer den Choreografen und sprach mit ihm über sein neues Werk.


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Die Eingangsszene könnte einem Jacques Tati Film entnommen sein. Eine in monochromem Grau gehaltene Bibliothek in der die Zeit still zu stehen scheint. Jeder einzelne Gegenstand, Möbel, Skulpturen, Bücher, ein Konzertflügel, Kerzenständer, Obstschalen, bis hin zu den Zigarettenstummeln im Aschenbecher, sind aus demselben grauen Material eigens für das Bühnenbild angefertigt worden. Es ist das Werk des belgischen Multimedia Künstlers Hans Op de Beeck und es trägt ganz wesentlich zum beeindruckenden visuellen Erlebnis dieser Inszenierung bei.
Ein Paar erscheint, hemmungslos in ein ins Groteske überzeichnetes Liebesspiel vertieft. Ihre verzweifelt wirkenden Bemühungen werden jedoch sogleich unterbrochen von einer kunstbeflissenen Touristengruppe die nun beginnt in überspannt wirkender Begeisterung die in der Bibliothek aufgestellten Skulpturen in Augenschein zu nehmen.

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Scheinen die dargestellten Charaktere Anfangs eher eindimensional zu wirken, gewinnen sie doch zunehmend an Tiefe während sich eine Art roter Handlungsfaden entwickelt. Texte, die von einzelnen Tänzern in englischer Sprache vorgetragen und simultan in schwedischer Übersetzung für das Publikum eingeblendet werden, geben Eiblicke in das gestörte Seelenleben einzelner Figuren des Stückes.

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"Nicht die Dinge selbst verwirren den Menschen, sondern seine Meinungen über die Dinge.“ Epiktet
Der für Cherkaouis Inszenierung namengebende, im 3. Jahrhundert vor Christus entstandene Stoizismus vertritt die Lehre, dass Begierden, Schmerz und Lust den Blick des Menschen auf das Wesentliche, die Erlangung von Weisheit als höchstes Glück, verstellen. Dabei beschreibt der Stoizismus nicht etwa einen emotionslosen Zustand. Vielmehr ist es das Streben nach Tugend, die Überwindung von Wunschdenken an dessen Stelle die Einsicht in den Lauf der Welt tritt. Statt sich von seinen Affekten leiten zu lassen findet der Stoiker zu sich selbst und damit zu höherer Weisheit.
In „Stoic“ greift Cherkaoui den Grundgedanken dieser Philosophie auf und zeichnet das Bild einer kleinen Gemeinschaft von Charakteren, die sich in einer fiktiven Bibliothek begegnen.

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Cherkaoui präsentiert ein breites Spektrum menschlicher und sozialer Süchte. Er lässt die Tänzerinnen und Tänzer wie Schlote gleich mehrere Zigaretten gleichzeitig rauchen bis sie sich in Hustenkrämpfen krümmen und gierig Kokain vom Tanzboden inhalieren. Es wird getanzt und getrunken als gäbe es kein Morgen.

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Wir erleben eine Gesellschaft im kollektiven Drogenrausch von Alkohol, Zigaretten und Kokain. Aber auch Smartphones und Bücher können zur Droge werden. Cherkaoui: „We are literally overdosed […] and I want to show how we are dealing with all this information.“

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In der monochromen Tristes der grauen Bibliothek, in der die Zeit zum Stillstand gekommen ist, erscheint das rauschhafte Fest der kleinen Gemeinschaft wie ein Tanz auf dem Vulkan. Dabei sind die Bilder die Cherkaoui zeichnet zu vielschichtig als das sich nur eine Lesart anbieten würde. Dem flauen Gefühl, dass sich beim Anblick einer Gesellschaft einstellt, die offenbar unbekümmert weiter feiert obwohl die Party doch schon längst vorüber ist, begegnet er mit augenzwinkernder Leichtigkeit und einer ordentlichen Portion Humor.

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Es ist eine furiose, humorvolle Choreografie in der Cherkaoui das Ensemble in einer Art Tanzorgie stetig und unaufhaltbar zum Höhepunkt bzw. zu ihrem Zusammenbruch führt. Man möchte diese so leidenschaftliche und temperamentvoll dargebotene Performance gleich ein zweites und drittes  Mal sehen.

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Cherkaoui: „Hans Op de Beeck created this library room […] and this room became a place for me to generate a choreography that suddenly became much more theatrical because the space inspired a theatrical form of thinking […] It was the first time in many years that I went back to a kind of Tanztheater.“

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Musik aus Marokko und dem Kongo verbinden sich mit japanischer Perkussion und werden gelegentlich ergänzt von elektronischen Klängen des Komponisten Felix Buxton vom Duo Basement Jaxx. Die Musiker Kaspy N’dia (Kongo), Mohammed El Arabi-Serghini (Marokko), Samy Bishai (Ägypten), Gabriele Miracle (Italien), Tsubasa Hori (Japan) musizieren live auf der Bühne, verbleiben dabei aber weitgehend im Hintergrund der Inszenierung.

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Die Personen, die in der Galerie aufeinandertreffen, steigern sich allmählich aber konsequent in eine Art exzessiven Rausch. Indem sie in der Interaktion einander und sich selbst begegnen lassen sie ihre Masken fallen hinter denen sie seelisches erlittenes Leid, Verletzungen und Fremdbestimmtheit verborgen hielten.
Während Cherkaoui sich in seinen vorherigen Werken häufig mit dem Thema Spiritualität auseinandersetzte richtet er in „Stoic“ seinen Blick auf eine wesentlich weltlichere Seite des Menschen und der Gesellschaft in der er lebt. „It’s a work of how to approach life.“

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Cherkaoui bedient sich der gesamten Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten seiner Tänzer. Er lässt sie hustend straucheln im rauchgeschwängerten Raum der Bibliothek, Monologe rezitieren und im Chor gemeinsam singen. Die ausgezeichnet aufeinander eingespielten Tänzer der beiden Ensembles spielen mit Leidenschaft und sichtlicher Begeisterung und liefern nicht nur tänzerisch sondern auch gesanglich eine erstklassige Leistung ab.

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Die Bemühungen der Charaktere ihre Lust im gemeinsam erlebten Rausch zu befriedigen endet im physischen und psychischen Zusammenbruch und so findet auch diese Party in der Bibliothek ihr Ende. Erst nachdem mit den Gästen die Reste der Ausgelassenheit von der Bühne gefegt wurden, verlagert sich Cherkaouis Blick und behutsam, mit leiseren Tönen, dringt er allmählich tiefer vor in das Innenleben seiner Charaktere. „There are dark places and light places in the room and they co-exist.“

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Die Idee zu „Stoic“ entstand vor zwei Jahren, als Cherkaoui auf den Multimedi Künstler Hans Op de Beeck traf und ihn in seinem Atelier in Brüssel besuchte. Es faszinierte ihn zu beobachten, wie reale Personen in den von Op den Beeck geschaffenen monochrom grauen Räumen besonders stark hervortraten und entwickelte jene „theatrical choreography“ zu „Stoic“. „The room inspired me to do many things“
Die von der Mode der 1950er Jahre inspirierten, in grauen und zarten Pastelltönen gehaltenen Kostüme gehen ebenfalls auf Entwürfe von Hand Op de Beeck zurück und sie fügen sich harmonisch ein in Cherkaouis theaterhafte Inszenierung.

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„Stoic“ konfrontiert uns mit Fragen, die wir uns stellen und Entscheidungen wie wir sie gelegentlich in unserem Leben treffen: Wie glücklich bist du mit deinem Leben? Liebst du die Person mit der du zusammenlebst? Welche Verletzungen hast du erlitten und bist du in der Lage zu vergeben? Cherkaoui wirft einen durchaus kritischen Blick auf die Kategorisierung von Menschen in Krankheitstypen durch die Psychoanalyse.

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Waldean Nelson überzeugt mit einer ausdrucksvollen schauspielerischen Leistung. Cherkaoui: „My focus is always on the stories the people are telling now, like things that are happening right now and how people are dealing with very complex issues that are linked to the society of today."

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„We are a little bit overly educated in thinking we understand the world and all we understand is the propaganda that is thrown at us. It’s not that we understand the world, we understand one world view and it’s the one that we were educated with and other people are educated differently. That’s why I love working with people from elsewhere because I learn the most. It helps me to see another perspective.“

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Für die Realisierung seiner dritten Kooperation mit der GöteborgsOperans Danskompani, die zweite mit der künstlerischen Leiterin des Ensembles Katrín Hall, genoß Cherkaoui größtmögliche künstlerische Freiheiten und somit ideale Rahmenbedingungen kreative Ideen gemeinsam mit dem Ensemble zu entwickeln.

Cherkaoui: „I love the dancers and I love the facilities here and the team. Everybody around the opera house is very welcoming. There is this kind of kindness and openness because it is a house that doesn’t only do dance but also opera. There is an understanding of creating something big, something with a lot of elements. There are things that I would not have been able to do anywhere else in the world. The elements with the clay were such a challenge for the house but it was incredible how everybody contributed to it to make it happen. The same with the work of Hans Op de Beeck. You need a lot of trust and you need people with a lot of imagination.“

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Ein Contemporary Ensemble der Weltklasse, vereint mit großartigen Interpreten seines eigenen Ensembles Eastman, Musik und Instrumenten aus unterschiedlichsten Kulturen, Solo- und Chorgesänge, die Bühne ein von Hans Op de Beeck kunstvoll geschaffener Raum und immer wieder ausgiebige Textpassagen, die von den Tänzern rezitiert werden; Cherkaoui schafft es, alle diese Elemente zusammen zu bringen um daraus ein ebenso tiefgründig unterhaltsames wie nachdenklich stimmendes Gesamtkunstwerk zu formen. Sidi Portrait

Bei aller Komplexität und Vielschichtigkeit der Inszenierung ist der Mensch auf seiner unablässigen Suche nach Selbstbestätigung und Erkenntnis jener rote Faden der sich durch das ganze Stück zieht. In einer Gesellschaft, wie sie Cherkaoui zeichnet, überwiegt letztendlich doch das Verbindende, was uns trotz aller Gegensätze zusammen hält. Auch wenn das Unvermögen, sich selbst oder seinen Nächsten zu erkennen, den Menschen dabei doch allzu oft im Wege steht und davon abhält, wahres Glück zu erreichen. Oder - ganz im Sinne der Stoiker - zu innerer Weisheit zu gelangen.

Den Abend beschließt „Solo Echo“, ein Werk der kanadischen Choreografin Crystal Pite, welches sie 2012 für das Nederlands Dans Theater geschaffen hat. „Solo Echo“ ist inspiriert von zwei Solo Sonaten für Cello und Klavier von Johannes Brahms und dem Gedicht „Lines for Winter“ von Mark Strand. Pites kraftvoll getanzte Choreografie erweckt melancholische Bilder von Winter, Liebe, Akzeptanz und Verlust.

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„Dust to Dust“ GöteborgsOperans Danskompani (mit Eastman in "Stoic"), Premiere am  12 Oct 2018 in Goteborgs Operan. Weitere Aufführungen am 6., 8., 12., 14. Dezember 2018

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